Autochthone Minderheitensprachen
von Dr. Sarah McMonagle, Universität Hamburg
Aus dem Altgriechischen stammend, bezieht sich der Begriff „autochthon“ auf die „ursprünglichen“ Bewohnerinnen und Bewohner eines Ortes – im Gegensatz z. B. zu Siedlern oder Einwanderern, die als „allochthon“ bezeichnet werden. Autochthone Sprachen sind also die, die einem Ort „heimisch“ sind. Die politische Durchsetzung des Kolonialismus und die Entstehung von Nationalstaaten, die bestimmte Sprachen in der Staatsführung, im Handel und im Bildungswesen privilegierten, ließen sogenannte autochthone Minderheitensprachen entstehen.
Mit der Gründung von Nationalstaaten und den damit verbundenen Grenzziehungen in Europa ab dem 18. Jahrhundert, wurden bestimmte Sprachvarianten der auf dem Territorium der neuen Staaten gesprochenen Sprachen als „Nationalsprachen“ gekennzeichnet – das waren die Sprachen von politisch und wirtschaftlich dominanten Gruppen. Unterstützend und ausgehend von diesem Prozess war und ist die Vorstellung, dass ein Staat, ein Volk und eine Sprache gleichsam natürlicherweise zusammengehören. Eine Konsequenz dieser Vorstellung ist die Abwertung oder gar Ausgrenzung anderer Sprachen und Dialekte, die sich im Kontext des Staates mit Minderheitenstatus wiederfanden (und -finden). Zur Zeit der Nationenbildung im 19. Jahrhundert war Europa – wie heute – ein vielsprachiges Gebiet. Auch auf dem Territorium dessen, was heute als Deutschland gilt, wurden verschiedene lokale und regionale Dialekte sowie nicht deutsche Sprachen bzw. Varietäten gesprochen. Durch die „Germanisierungspolitik“ des preußischen Staates vollzog sich die Einführung des Hochdeutschen als Sprache staatlicher Institutionen und zentraler Einrichtungen.
Eine besondere Rolle bei der Durchsetzung einer Nationalsprache in einer Bevölkerung spielte das jeweilige Bildungssystem, dem die Aufgabe ihrer Verbreitung und Sicherung zukam. So wurde z. B. das Hochdeutsche zur offiziellen Unterrichtssprache in Schulen (Hansen und Wenning 2003; Krüger-Potratz 2020). An die Sprecherinnen und Sprecher ausgeschlossener Sprachen wurde die Anforderung des Übertritts in die „nationalsprachliche Gemeinschaft“ oder der Zweisprachigkeit gestellt. Die auf diese Weise entstandenen sprachlichen Minderheiten erfuhren dabei ein breites Spektrum der Behandlung seitens der Mehrheit: von der stillschweigenden Duldung bis zur aktiven, mit Gewalt durchgesetzten Unterdrückung. Bis heute ist das gesamte Spektrum in Nationalstaaten zu finden (vgl. zu dieser Geschichte Kremnitz 1997).
Eine allgemein akzeptierte Definition für so entstandene Minderheiten ist die vom UNO-Sonderberichterstatter Francesco Caporti, laut der sich Minderheiten durch folgende Eigenschaften auszeichnen: numerische Unterlegenheit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung; nicht-dominante Stellung im Staat; Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates; ein Solidaritäts- bzw. Identitätsgefühl durch die Selbstwahrnehmung als Minderheit und ein Interesse daran, die Kultur (inkl. Sprache) der Gruppe zu bewahren (vgl. Toggenburg und Rautz 2012, S. 219).
Für autochthone Minderheitensprachen und ihre Sprecherinnen und Sprecher werden unterschiedliche Bezeichnungen verwendet, manchmal synonym, meist aber abhängig vom geopolitischen Kontext: altansässige, historische oder indigene Sprachen; nationale, regionale Minderheiten oder Volksgruppen.
Aktuelle Lage
Laut Angaben der Europäischen Union (EU) werden über 60 autochthone Regional- oder Minderheitensprachen von rund 40 Millionen EU-Bürgerninnen und Bürger gesprochen (Europäische Union o. J.). Geopolitisch betrachtet, lassen sich autochthone Minderheitensprachen in Europa in vier Kategorien klassifizieren:
- Sprachen, die in einem Staat von einer Minderheit gesprochen werden, in einem anderen Staat jedoch die Mehrheits- oder Nationalsprache darstellen (z. B. Dänisch in Deutschland oder Deutsch in Dänemark);
- Sprachen, die in zwei oder mehr Staaten gesprochen werden, ohne in einem Staat eine Mehrheitssprache zu bilden (z. B. das Baskische in Frankreich und Spanien);
- Sprachen, die in einem einzigen Staat gesprochen werden, ohne dort die Mehrheit zu konstituieren (z. B. Sorbisch in Deutschland, Walisisch im Vereinigten Königreich);
- Nicht territorial gebundene Sprachen, wie z. B. das Romanes oder Jiddisch, die in einem oder mehreren Staaten gesprochen werden.
Zumeist benutzen Sprecherinnen und Sprecher autochthoner Minderheitensprachen auch die Amts- oder Nationalsprache des Staates, in dem sie leben. Weiterhin ist es nicht immer der Fall, dass diejenigen, die sich mit einer Minderheitsgemeinschaft identifizieren, die „dazugehörige“ Sprache tatsächlich sprechen können oder in allen Lebensbereichen anwenden. Die Vitalität einer Minderheitensprache ist daran erkennbar, dass sie in möglichst vielen verschiedenen Bereichen, privat ebenso wie öffentlich oder staatlich, verwendet wird. Abhängig ist die Vitalität einer Sprache von verschiedenen Faktoren, z. B. von ihrer intergenerationalen Weitergabe, von den Haltungen der jeweiligen Gemeinschaft gegenüber der Sprache, von staatlicher Anerkennung und Förderung, von der Rolle der Sprache in öffentlichen Domänen sowie in den (traditionellen und neuen) Medien, und nicht zuletzt davon, ob sie in Schulen (als Erst- oder Zweitsprache) unterrichtet wird und ob relevante Bildungsressourcen verfügbar sind (vgl. UNESCO 2003). Erhalt und Gebrauch einer Minderheitensprache sind also nicht nur vom Wunsch und Willen ihrer Sprecherinnen und Sprecher abhängig.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzen sich allmählich politische Positionen durch, die anstelle der Unterdrückung von Minderheitensprachen und ihrer Sprecherinnen und Sprecher auf die Einräumung von Schutz und Rechten setzen. Dabei wurden politische Instrumente entwickelt, die Nationalstaaten dazu auffordern, Kulturen und Sprachen der autochthonen Minderheiten zu schützen und zu fördern. Dazu gehören u. a. verschiedene Deklarationen und Empfehlungen der Vereinten Nationen, die jedoch nicht rechtsverbindlich sind (vgl. Oeter 2020). Sie üben dennoch Einfluss auf die Staaten, die sie unterzeichnen, aus. Ein bedeutendes Instrument ist „Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ (ECRM) des Europarats (Europarat 1992).
Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen
Die ECRM ist das einzige internationale Abkommen, das sich ausschließlich autochthonen Minderheitensprachen widmet. Sie wurde 1992 vom Europarat gezeichnet und trat 1998 in Kraft. Sie wurde bis zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes von ungefähr der Hälfte der Mitgliedsstaaten des Europarats unterzeichnet und ratifiziert – auch von Deutschland.
Die ECRM gliedert sich in fünf Abschnitte, in denen u. a. die Verpflichtungen der unterzeichnenden Staaten gegenüber ihren Regional- und Minderheitensprachen aufgeführt sind. Zu beachten ist, dass die Vorschriften der Charta nicht automatisch für alle Regional- und Minderheitensprachen in Europa gelten. Die Auswahl der Sprachen, denen sie Förderung und Schutz zukommen lassen möchten, liegt ausschließlich bei den jeweiligen Regierungen. Die Unterzeichnerstaaten sind gegenüber den von ihnen ausgewählten Sprachen allgemein verpflichtet sie anzuerkennen, zu respektieren, und ihren Gebrauch zu erleichtern und zu ermutigen. Explizit benannte Sprachen können von weiteren staatlicher Unterstützung profitieren durch maßgeschneiderte Maßnahmen, die in der ECRM sieben Bereichen zugeordnet sind: Bildung; Justizbehörden; Verwaltung und öffentlichen Dienstleistungsbetrieben; Medien; kulturellen Tätigkeiten und Einrichtungen; wirtschaftlichem und sozialem Leben; grenzüberschreitendem Austausch (Europarat 1992).
Die Bundesrepublik Deutschland hat die ECRM 1992 unterzeichnet; 1999 ist sie in Kraft getreten. Als zu schützende und zu fördernde Sprachen wurden die Sprachen der anerkannten nationalen Minderheiten in Deutschland – die Dänen, das sorbische Volk, die Friesen in Deutschland, die deutschen Sinti und Roma – sowie die Regionalsprache Niederdeutsch benannt. Als Unterzeichnerstaat ist Deutschland verpflichtet, dem Europarat regelmäßig über die ergriffenen Maßnahmen Bericht zu erstatten. Diese Berichte werden durch einen Sachverständigenausschuss geprüft und bewertet. Die Bewertung enthält Vorschläge zur Erfüllung der Verpflichtungen, die das Ministerkomitee des Europarats als Empfehlungen an den jeweiligen Staat weitergibt. In der letzten Mittteilung des Ministerkomitees an die deutsche Regierung (Januar 2019 zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes), wird Deutschland unter anderem empfohlen, dafür zu sorgen, dass eine ausreichende Zahl von angemessen ausgebildeten Lehrkräften für den Unterricht in den Regional- oder Minderheitensprachen zur Verfügung steht (Europarat 2019). Der Mangel an ausreichend qualifizierten Lehrkräften scheint dabei nicht nur in Deutschland zu bestehen, sondern ein allgemeines Problem in Bezug auf den Erhalt der autochthonen Minderheitensprachen in Europa zu sein (vgl. European Parliament 2017). Mitverantwortlich dafür ist die fehlende Kontinuität der Förderung über die Bildungsbiografie hinweg – während viele Staaten sich dazu verpflichten, autochthone Minderheitensprachen in der Vor- und Primarstufe zu fördern, werden mit zunehmenden Alter den Lernenden weniger Bildungsmöglichkeiten in der jeweiligen Sprache bereitgestellt (Nogueira López 2012). Deswegen fehlen Grundlagen für eine akademische oder andere qualifizierte Lehrerinnen- und Lehrerausbildung.
Weiterlesen
Staatsberichte, Bewertungen des Sachverständigenausschusses und Empfehlungen des Ministerkomitees in Bezug auf die Erfüllung der Verpflichtungen der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen: https://www.coe.int/de/web/european-charter-regional-or-minority-languages/reports-and-recommendations. Zugriffsdatum 01.02.2021.
Gogolin, I. & Oeter, S. (2011). Sprachenrechte und Sprachminderheiten – Übertragbarkeit des internationalen Sprachenregimes auf Migrant(inn)en: Recht der Jugend und des Bildungswesens. In RdJB, 59(1), S. 30-45.
McMonagle, S. (2020). Autochthone Minderheiten und ihre Sprachen – eine europäische Perspektive. In I. Gogolin, A. Hansen, S. McMonagle & D. Rauch (Hrsg.), Mehrsprachigkeit und Bildung. Springer-Verlag. S. 31-37.
McMonagle, S. (2012). The European Charter for Regional or Minority Languages: Still Relevant in the Information Age? (PDF) Journal on Ethnopolitics and Minorities in Europe, 11(2), S. 1-24.
Nic Craith, M. (2006). Europe and the Politics of Language: Citizens, Migrants and Outsiders. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Oeter, S. (2020). Sprachpolitik und Sprachenrechte. In I. Gogolin, A. Hansen, S. McMonagle & D. Rauch (Hrsg.), Mehrsprachigkeit und Bildung. Springer-Verlag. S. 329-334.
Pan, C., Pfeil, B.S. & Videsott, P. (Hrsg.) (2018). Die Volksgruppen in Europa. Wien, Berlin: Verlag Österreich, BWV.
Zitierte Literatur
Europarat (1992). Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Straßburg: Council of Europe.
Europarat (2019). Empfehlung CM/RecChL(2019)1 des Ministerkomitees an die Mitgliedsstaaten
zur Anwendung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen durch Deutschland: https://rm.coe.int/germanycmrec6-de/1680a0c595. Zugriffsdatum 01.02.2021.
Europäische Union (o. J.) EU-Sprachen: https://europa.eu/european-union/about-eu/eu-languages_de. Zugriffsdatum 01.02.2021.
European Parliament (2017). Research for CULT COMMITTEE – Minority Languages and Education: Best Practices and Pitfalls. Brussels: European Union Publications Office.
Hansen, G., & Wenning, N. (2003). Schulpolitik für andere Ethnien in Deutschland. Zwischen Autonomie und Unterdrückung. Münster: Waxmann.
Kremnitz, G. (1997). Die Durchsetzung der Nationalsprachen in Europa (Lernen für Europa). Münster, New York u. a.: Waxmann.
Krüger-Potratz, M. (2020). Mehrsprachigkeit und Einsprachigkeit. Zur Geschichte des Streits um den „Normalfall“ im deutschen Kontext. In I. Gogolin, A. Hansen, S. McMonagle & D. Rauch (Hrsg.), Mehrsprachigkeit und Bildung. Springer-Verlag. S. 341-346.
Nogueira López, A. (2012). Education (I). In A. Noguiera López, E. J. Ruiz Vieytez & I. Urrutia Libarona (Hrsg.), Shaping Language Rights. Commentary on the European Charter for Regional or Minority Languages in light of the Committee of Experts Evaluation (S. 247–288). Strasbourg: Council of Europe.
Toggenburg, G. N., & Rautz, G. (2012). The Protection of Minorities in Europe. A Legal-Political Compendium Leading from A to Z. Autonomous Region Trentino-Südtirol.
UNESCO (2003). Language Vitality and Endangerment. Paris: UNESCO.