Bildungssprache
Was versteht man unter Bildungssprache? Welche Merkmale zeichnen sie aus? Wie kann sie im Schulsystem gefördert werden? Welche Rolle spielt Zwei- oder Mehrsprachigkeit dabei?
von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ingrid Gogolin, Universität Hamburg
Bedeutung
Der Begriff Bildungssprache bezeichnet ein spezielles sprachliches Register, das im Kontext der schulischen Bildung eine besondere Rolle spielt. Ein Register ist eine Art und Weise des Sprachgebrauchs, die für einen bestimmten Kontext charakteristisch ist. Mit dem Begriff Bildungssprache wird auf Besonderheiten des Sprachgebrauchs verwiesen, der in Schulen und in anderen formalen (Bildungs-)Kontexten benutzt wird, um Fähigkeiten und Wissen zu vermitteln bzw. sich anzueignen (Gogolin et al. 2013). Der Begriff hat in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum eine breite Rezeption erfahren (Lange 2020). Bildungssprache gilt als Schlüssel für Schulerfolg, wird als Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen in Bildungsstandards und Lehrplänen erwähnt, und die Förderung bildungssprachlicher Kompetenz zählt zu den Kernaufgaben von pädagogischem Personal und Lehrkräften. Im Kontext von Forschung zu Bildungserfolg spielt der Begriff eine wichtige Rolle bei der Frage, warum Kinder und Jugendliche im Bildungssystem benachteiligt sind. Häufig wird diese Frage verknüpft mit Zwei- oder Mehrsprachigkeit und Migration, denn Lernende aus Migrantenfamilien, in denen weitere Sprachen außer oder neben Deutsch gesprochen werden, erreichen oft schlechtere Leistungen als Gleichaltrige aus Familien, in denen nur Deutsch benutzt wird. Daher stellt sich die Frage, ob und wie die sprachliche Herkunft bzw. Lebenssituation die Entwicklung oder die Förderung von bildungssprachlichen Fähigkeiten beeinflusst.
Merkmale von Bildungssprache
Bildungssprachliche Redemittel werden zum Ausdruck von Informationen, Standpunkten, Einschätzungen gebraucht, die möglichst genau den Anforderungen des jeweils behandelten Themas oder Sachverhalts entsprechen. Erforderlich ist, dass man sich so präzise wie möglich ausdrückt, um inhaltlich anspruchsvolle Informationen oder Positionen mitzuteilen – möglichst, ohne Missverständnisse zu provozieren oder Ungenauigkeiten in Kauf zu nehmen. Bildungssprache ist an den Regeln schriftlicher Sprache orientiert, auch wenn sie mündlich benutzt wird (Gogolin et al. 2013). Nach (Heppt, 2016) lassen sich Merkmale der Bildungssprache auf drei Ebenen anordnen:
Diskursive Merkmale. Diese betreffen die stilistische Rahmung der Redemittel, also die Orientierung des Sprechens oder Schreibens an der jeweiligen Situation; dazu gehören zum Beispiel:
- eher monologische Formen des Sprechens oder Schreibens (z. B. Vortrag für eine Konferenz, Aufsatz),
- spezifische Sprachhandlungen (z. B. Beschreiben, Erklären, Definieren, Argumentieren), die in formalen Situationen wie dem Unterricht gehäuft vorkommen,
- Kompositionen von Äußerungen bzw. Textsorten, die ebenfalls im Bildungskontext besonders oft verwendet werden (z.B. Bericht, Protokoll, Erörterung),
- stilistische Konventionen (Sachlichkeit, logische Gliederung, Präzision).
Grammatische Merkmale: Hier ist der Bau von längeren Äußerungen, Sätzen und Texten angesprochen. Typisch für bildungssprachliche Ausdrucksweisen sind zum Beispiel:
- eher längere Sätze bzw. Verbindungen von Sätzen mit eingebauten komplexen Strukturen (wie Haupt-/ Nebensätze, Funktionsverbgefüge, Partizipial- und Passivkonstruktionen),
- Redemittel, mit denen zwischen Teilen einer Äußerung oder innerhalb eines Textes Bezüge und Verweise hergestellt werden (z.B. Konnektoren, mit denen Sätze oder andere Textelemente miteinander verbunden werden, wie und, dass, weil…, oder Pronomen, die auf andere Textteile verweisen, wie „Der Junge spielt. Er heißt Klaus“).
Lexikalische Merkmale: Angesprochen sind hier Merkmale des Wortschatzes und der Wortbildung. Tendenziell bildungssprachlich sind zum Beispiel
- abstrahierende und differenzierende Begriffe,
- Fachbegriffe,
- Nominalisierungen,
- Präfix- und Partikelverben,
- unpersönliche Ausdrücke,
- Komposita.
Alle diese Ausdrucksmöglichkeiten werden selbstverständlich auch in anderen als dem Bildungskontext genutzt. Sie unter dem Begriff Bildungssprache zusammenzufassen hat den Zweck, auf ihre besondere Häufigkeit und Relevanz in diesem Kontext aufmerksam zu machen. Zum einen werden Lerninhalte in den entsprechenden Ausdrucksformen dargeboten; es ist also notwendig, dass die Lernenden diese verstehen, um sich Wissen und Fähigkeiten anzueignen. Zum anderen wird von ihnen verlangt, dass sie sich in den entsprechenden Formen selbst ausdrücken, wenn sie ihr Können und Wissen unter Beweis stellen. Je weiter die Lernenden im Bildungsgang vorangeschritten sind, desto höher wird der Anspruch an ihre bildungssprachlichen Verstehens- und Ausdrucksmöglichkeiten.
Zur Klärung der Bedeutung des Begriffs Bildungssprache wird vielfach auch auf Abgrenzungen zu bzw. Überschneidungen von anderen Registern aufmerksam gemacht – beispielsweise Alltagssprache, Fachsprache(n), Wissenschaftssprache, Schulsprache oder Unterrichtssprache. Die Differenzierung orientiert sich daran, welcher Funktionsbereich der Redemittel und welche Zielgruppe jeweils im Zentrum stehen (Feilke 2012; Lange 2012). So wird mit der Unterscheidung zwischen Bildungs- und Wissenschaftssprache auf die bildungsbiographische Phase aufmerksam gemacht, in der sich eine lernende Person befindet. Während mit dem Gebrauch von „Schulsprache“ die Einrichtung in den Vordergrund gestellt wird, in der sich der Sprachgebrauch vollzieht, verweist „Bildungssprache“ auf die Vorgänge der Vermittlung bzw. Aneignung von Können und Wissen, die durchaus auch in anderen als schulischen Einrichtungen stattfinden. Die Beispiele illustrieren, dass die Bezeichnungen nicht in Widerspruch oder Konkurrenz miteinander stehen, sondern einander ergänzen. Die Unterscheidung hilft hervorzuheben, worauf sich das Hauptaugenmerk eines Beitrags richtet.
Forschungs- und Praxisfragen
Der Begriff Bildungssprache hat vorerst heuristische Funktion: Er eignet sich also dazu, einen Sachverhalt oder Zusammenhang, über den zunächst begrenztes Wissen vorhanden ist, klar und eindeutig genug zu bezeichnen, um durch weitere Forschung zur besser abgesicherten inhaltlichen Füllung zu kommen. Die Forschung über Bildungssprache wendet sich verschiedenen Dimensionen dieser Aufgabe zu. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive besteht ein Interesse an der Identifizierung und Präzisierung der Redemittel, die dem Register Bildungssprache zuzurechnen sind. Dies dient unter anderem der Möglichkeit der Operationalisierung, also der Konkretisierung von Merkmalen zum Zwecke der Beobachtung und Einschätzung bildungssprachlicher Äußerungen oder Texte (z. B. Bärenfänger 2016; Redder 2014). Zu den potentiellen Anwendungsbereichen entsprechender Forschungsergebnisse gehört auch die Bildungsforschung: Die identifizierten Merkmale können bei der Konstruktion von Tests oder anderen Instrumenten verwendet werden, die der Beurteilung oder Messung bildungssprachlicher Fähigkeiten dienen.
Im Kontext von Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung werden eher Fragestellungen verfolgt, die Auskunft über Entwicklung, Lernen und Vermittlung bildungssprachlicher Fähigkeiten geben. Dazu gehört beispielsweise die Frage, welchen Einfluss eine zwei- oder mehrsprachige Lebenssituation darauf hat, dass sich Kinder und Jugendliche bildungssprachliche Fähigkeiten in der Schul- und Unterrichtssprache Deutsch aneignen (Klinger, Usanova, & Gogolin 2019). Andere Untersuchungen richten sich darauf, die Merkmale bildungssprachlicher Äußerungen zu identifizieren, die Lernenden besondere Schwierigkeiten bereiten, und Strategien für den Unterricht zu entwickeln, die die Aneignung dieser sprachlichen Mittel besonders unterstützen. Ein Teil dieser Forschung richtet sich auch auf die Frage, welche Rolle Zwei- oder Mehrsprachigkeit in diesem Zusammenhang spielen kann. Die folgenden Beispiele illustrieren Fragestellungen aus Untersuchungen zur Zwei- und Mehrsprachigkeit.
Die Leitfrage einer solchen Studie lautet, wie Fähigkeiten zur Herstellung kohärenter Texte trainiert und zwischen den Sprachen, die Lernende mitbringen, transferiert werden können (Wenk et al. 2016). Hier zeigt sich, dass die Förderung von textförderlichen Strategien in der stärksten Sprache der Kinder und Jugendlichen sich auch positiv auf die Fähigkeiten in den schwächer ausgeprägten Sprachen auswirken kann, wenn mehrsprachigkeitssensibel unterrichtet wird. Dabei genügt es allerdings nicht, den Lernenden einfach die entsprechenden sprachlichen Mittel an die Hand zu geben. Bewährt hat sich vielmehr, dass ihnen die Funktion der Mittel erklärt und transparent gemacht wird, die für eine höhere Textkohärenz sorgen. Bei Unterricht nach diesem Vorbild kann das Deutsche die Vorreiterrolle bei der Förderung bildungssprachlicher Mehrsprachigkeit übernehmen.
Andere Beispiele praxisrelevanter Forschung richten sich auf die Möglichkeit, sprachaufmerksamen Unterricht gezielt zur Förderung fachlichen Könnens einzusetzen und dabei auch mehrsprachige Möglichkeiten unter Einbeziehung der Herkunftssprachen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu erproben (Prediger 2020) (Roll et al. 2019). Wieder andere Ansätze richten sich darauf, die metasprachlichen Fähigkeiten der Lernenden zu fördern – also das Wissen über Sprache, das bei Kindern, die in zwei oder mehr Sprachen leben, vielfach besonders ausgeprägt ist. Dabei wird davon ausgegangen, dass es für die Aneignung bildungssprachlicher Fähigkeiten besonders vielversprechend ist, wenn die Lernenden dabei ihr Wissen über Sprache einsetzen und erweitern können. Erste Studien zeigen, welche Funktionen mehrsprachige Vorgehensweisen hierbei übernehmen können (Bien-Miller et al. 2017).
Praxisrelevant sind ferner Untersuchungen, in denen es darum geht, dass Kinder sich gegenseitig bei der Lösung von Aufgaben unterstützen („Peer learning-Strategien“). Auch hierbei wird überprüft, ob und unter welchen Bedingungen die Aktivierung der Mehrsprachigkeit der Kinder für das Verstehen von neuem Stoff, das Lösen von Problemen oder das Vertiefen von Verständnis genutzt werden kann (Schastak et al. 2017). Ansätze des Peer Learning können dabei nützlich sein, dass Herausforderungen, die mit der Aneignung einer neuen Sache, eines neuen Wissens verbunden sind, und die Herausforderungen, die mit der Aneignung der Sprache zur Sache verbunden sind, den Lernenden nicht gleichzeitig zugemutet werden, sondern nacheinander: Wenn die Sache verstanden ist, kann die Sprache zur Sache – also die bildungssprachliche Art und Weise, sich über etwas Verstandenes zu äußern – vermittelt werden. Dieses Vorgehen der Trennung und Präzisierung von Herausforderungen an die Lernenden, verbunden mit schrittweiser Erweiterung ihres Könnens und Wissens zu einem Thema oder Gegenstand, wird als Scaffolding bezeichnet und hat sich bei der Förderung bildungssprachlicher Fähigkeiten in Verbindung mit fachlichem Unterricht bewährt (siehe z.B. Quehl & Trapp 2013).
Weiterlesen
Bildungssprache ist also eine Form der Sprache, die Bildungsprozesse insgesamt durchdringt. Es gibt diese Form in jeder Sprache, die in einem Bildungssystem vermittelt und angeeignet wird. Bildungssprache durchdringt Bildungsprozesse insgesamt. Damit verbunden ist, dass ihre Förderung in allen Phasen und allen Bereichen der Bildungsbiographie erfolgen muss (à siehe hierzu den Beitrag zur Durchgängigen Sprachbildung des Grundwissens Mehrsprachigkeit). Zur Förderung bildungssprachlicher Fähigkeiten muss und kann jeder Lernbereich, jeder Unterricht beitragen (à siehe hierzu den Beitrag „Sprachsensibler Unterricht“ des Mercator Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache). Mehrsprachigkeit stellt eine Herausforderung für die Vermittlung und Aneignung bildungssprachlicher Fähigkeiten dar, enthält aber zugleich auch Potentiale, die sinnvoll genutzt werden können (à siehe hierzu zum Beispiel Materialien zur Wertschätzung, Nutzung und Förderung von Mehrsprachigkeit in Bildungseinrichtungen; siehe auch à Hinweise auf Chancen, die mit dem Einsatz digitaler Medien verbunden sind.
Zitierte Literatur
Bärenfänger, O. (2016). Bildungssprache im Brennpunkt der Leistungsbewertung. In E. Tschirner, O. Bärenfänger & J. Möhring (Hrsg.), Deutsch als fremde Bildungssprache. Das Spannungsfeld von Fachwissen, sprachlicher Kompetenz, Diagnostik und Didaktik (S. 21–28). Tübingen: Staufenburg.
Bien-Miller, L., Akbulut, M., Wildemann, A., & Reich, H. H. (2017). Zusammenhänge zwischen mehrsprachigen Sprachkompetenzen und Sprachbewusstheit bei Grundschulkindern. Zeitschrift Für Erziehungswissenschaft (ZfE), 20(2), S. 193–211.
Feilke, H. (2012). Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln. In Praxis Deutsch, 233, S. 4-13.
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Heppt, B. (2016). Verständnis von Bildungssprache bei Kindern mit deutscher und nicht-deutscher Familiensprache (Dissertation). Humboldt-Universität, Berlin. Retrieved from https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/18186.
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Lange, I. (2012). Von ‚Schülerisch‘ zu Bildungssprache. In S. Fürstenau (Hrsg.), Interkulturelle Pädagogik und Sprachliche Bildung. Herausforderungen für die Lehrerbildung (S. 123-142). Wiesbaden: Springer VS.
Prediger, S. (Ed.) (2020). Sprachbildender Mathematikunterricht in der Sekundarstufe - ein for-schungsbasiertes Praxisbuch. Berlin: Cornelsen.
Quehl, T. & Trapp, U. (2013). Sprachbildung im Sachunterricht der Grundschule. Mit dem Scaffolding-Konzept unterwegs zur Bildungssprache. FörMig Material. Münster, New York u.a.: Waxmann.
Redder, A. (2014). Wissenschaftssprache – Bildungssprache – Lehr-Lern-Diskurs. In A. Hornung, G. Carobbio & D. Sorrentino (Hrsg.), Diskursive und textuelle Strukturen in der Hochschuldidaktik (S. 25–40). Münster, New York: Waxmann.
Roll, H., Bernhardt, M., Enzenbach, C., Fischer, H. E., Gürsoy, E., Krabbe, H., Uluçam-Wegmann, I. (Eds.) (2019). Schreiben im Fachunterricht der Sekundarstufe I unter Einbeziehung des Türkischen: Empirische Befunde aus den Fächern Geschichte, Physik, Technik, Politik, Deutsch und Türkisch. (PDF). Münster u.a.: Waxmann.
Schastak, M., Reitenbach, V., Rauch. D. & Decristan, J. (2017). Türkisch-Deutsch bilinguale Interaktion beim Peer-Learning in der Grundschule: Selbstberichtete Gründe für die Annahme oder Ablehnung bilingualer Interaktionsangebote. In Zeitschrift für Erziehungswissenchaft, 20(2), S. 213 – 235.
Wenk, A. K., Marx, N., Steinhoff, T., & Rüßmann, L. (2016). Förderung bilingualer Schreibfähigkeiten am Beispiel Deutsch - Türkisch. Zeitschrift Für Fremdsprachenforschung, (PDF) 27(2), 151–179.