Herkunftssprachen
von Prof. Dr. Grit Mehlhorn, Universität Leipzig
Der Begriff Herkunftssprache (HS) wurde aus dem Englischen entlehnt (heritage language) und bezeichnet die meist zuerst erworbene Sprache eines Individuums, das in einer Familie aufwächst, in der nicht (nur) die Sprache der umgebenden Mehrheitsgesellschaft verwendet wird (Brehmer & Mehlhorn 2018: 18). Im Kontext von Mehrsprachigkeit wird der Begriff in Bezug auf Kinder und Jugendliche verwendet, die weitere Sprachen außer oder neben Deutsch sprechen. Zu den in Deutschland am häufigsten gesprochenen HSn gehören Türkisch, Russisch, Polnisch und Arabisch. In Österreich sind es v. a. Türkisch und Bosnisch/Serbisch/Kroatisch, in der Schweiz Albanisch und Portugiesisch. Die Anzahl der verwendeten HSn wächst kontinuierlich.
Herkunftssprecher/innen (heritage speakers) wurden entweder schon im Aufnahmeland geboren oder sind noch vor dem Schuleintritt immigriert, wachsen somit seit der Kindheit in einer mehrsprachigen Lebenswelt auf. Da die Umgebungssprache sich bald zur dominanten Sprache entwickelt, wird die HS oft nicht vollständig erworben (Lynch 2003). Durch die hauptsächliche Nutzung im familiären Kontext bleibt der Input in der HS auf wenige Kontaktpersonen beschränkt und ist wesentlich geringer als bei monolingual aufwachsenden Gleichaltrigen im Herkunftssprachenland.
Herkunftssprache im deutschsprachigen Diskurs
Der Begriff HS hat in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum eine breite Rezeption erfahren. Er wird häufig abgegrenzt von Begriffen bzw. Konzepten wie Umgebungssprache, Schulsprache und Unterrichtssprache sowie Zweit- und Fremdsprache. Überschneidungen ergeben sich mit den Begriffen
- Erstsprache: Die HS stellt eine Erstsprache (L1) dar, wenn sie nach der Geburt zuerst er-worben wird. Doppelter Erstspracherwerb (2 L1) bzw. simultan erworbene Zweisprachigkeit liegt vor, wenn ein Kind von Beginn an die HS und die Umgebungssprache Deutsch erwirbt. Setzt der Erwerb des Deutschen mit deutlichem zeitlichen Abstand nach der HS ein, z. B. im Kindergartenalter oder mit Eintritt in die Schule, wird Deutsch als Zweitsprache (L2) erworben.
- Familiensprache: In der Familienkommunikation mehrsprachiger Familien wird meist mehr als ei-ne Sprache gesprochen, z.B. Türkisch, Kurdisch und Deutsch. Während Tür-kisch und Kurdisch typische HSn darstellen und Deutsch die Umgebungsspra-che, können alle drei Sprachen als Familiensprachen fungieren. Deutsch in ei-nem deutschsprachigen Land gilt jedoch nicht als HS.
- „Migrantensprache“: Zwar handelt es sich bei HSn um Minderheitensprachen, die oft im Zusam-menhang mit einer Zuwanderungsgeschichte stehen, aber die Sprecher/innen in der zweiten oder dritten Generation wurden häufig bereits in Deutschland geboren und verfügen in diesem Fall nicht selbst über Migrationserfahrungen.
- „Muttersprache“ ist ein alltagssprachlicher Begriff, unter dem verschiedene Menschen unterschiedliche Dinge verstehen, z. B. Sprache der Eltern oder zuerst gelernte Sprache oder besser beherrschte Sprache, was jeweils unterschiedliche Konzepte sind. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei HS um einen definierten Terminus (siehe oben), der präziser ist und daher in der Mehrsprachigkeitsfor-schung bevorzugt verwendet wird.
Zu Missverständnissen kann es kommen, wenn ein alltagssprachliches Verständnis von HS im Sinne von ,Ausgangssprache‘ zugrunde gelegt wird, etwa im Kontext von Deutsch als Fremdsprache für Französisch- oder Chinesischsprachige. Hierbei handelt es sich nicht um den Fachbegriff HS, wie er in der Mehrsprachigkeitsforschung Verwendung findet.
Merkmale von Herkunftssprachen
Die Fähigkeiten von Herkunftssprecher/innen reichen von rudimentären rezeptiv-mündlichen bis zu sehr guten Kompetenzen in gesprochener und geschriebener Sprache. Um die sprachliche Heterogenität von Sprecher/innen in einer HS zu erfassen, unterscheiden Polinsky & Kagan (2007)
- akrolektale Sprecher/innen mit ausgeglichenen Kompetenzen im Hörverstehen, Leseverstehen, Sprechen und Schreiben,
- mesolektale Sprecher/innen, die die HS verstehen, sie aber kaum sprechen, sog. rezeptiver Bilingualismus (vgl. auch Anstatt 2018),
- basilektale Sprecher/innen, bei denen gering ausgeprägte Kompetenzen bis zum völligen Verlust der HS vorliegen können.
Bei den meisten Herkunftssprechern sind mündliche Fertigkeiten wesentlich besser entwickelt als schriftsprachliche Kompetenzen. Nicht alle bilingual aufwachsende Menschen können in ihrer HS lesen und schreiben.
Durch den intensiven Kontakt mit der Umgebungssprache sind für HSn Entlehnungen und Transfer aus dem Deutschen (sog. Interferenzen) typisch, so dass sich die HS zu einer Varietät entwickelt, die sich in einigen Merkmalen von der im Herkunftssprachenland verwendeten Standardsprache unterscheidet. Der reduzierte bzw. mit steigendem Alter oft schwindende Input in der HS reicht zuweilen nicht aus, um das Regelwissen bzgl. einzelner, weniger frequenter Strukturen fest zu verankern. Ohne expliziten Unterricht in der HS kommt es so zu nicht abgeschlossenem Erwerb, Verarbeitungsschwierigkeiten und Fossilisierungen, d. h., dass abweichende Strukturen nicht korrigiert werden und sich verfestigen. Bei Herkunftssprecher/innen wird zudem häufig Code Switching (Sprachenwechsel) zwischen der HS und dem Deutschen beobachtet (Brehmer & Mehlhorn 2018, Kap. 3).
Forschungs- und Praxisfragen
Durch den öffentlichen politischen Diskurs um Migration, Integration und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit sind HSn in den letzten Jahren vermehrt in das Interesse wissenschaftlicher Forschung gerückt. Ein wichtiges linguistisches Anliegen sind Bestrebungen zur Systematisierung und Beschreibung der Merkmale von HSn. Aktuell dominiert Forschung in drei Bereichen:
- Soziolinguistische Studien nehmen Spracheinstellungen und Identität, Sprachlernbiografien und außersprachliche Faktoren in den Blick, die den Erhalt der HS beeinflussen.
- Psycholinguistische Studien befassen sich mit simultanen und sukzessiven Erwerbsprozessen der HS und des Deutschen sowie Sprachverlust in der HS – dem Phänomen, dass bei einem Individuum bereits erworbene sprachliche Formen vergessen werden.
- Kontaktlinguistische Studien untersuchen die wechselseitige Beeinflussung der beiden Sprachen und Abweichungen in der HS auf verschiedenen sprachlichen Ebenen.
Themen wissenschaftlicher Forschung sind z. B. die Entwicklung von Instrumenten zur Erfassung herkunftssprachlicher Kompetenzen sowie Bedingungen für den Erhalt und Verlust von HSn (u. a. Kristen et al. 2019, Olfert 2019). In entsprechenden Studien werden häufig Daten von bilingualen Kindern und Jugendlichen mit denen von monolingual aufgewachsenen Gleichaltrigen oder Fremdsprachenlernenden derselben Zielsprache oder auch Gruppen bilingualer Personen verschiedener Herkunftssprachen miteinander verglichen. Da sog. Querschnittsstudien einzelner herkunftssprachlicher Kompetenzen nur ausschnitthafte Momentaufnahmen darstellen und oft wenig über die Ursachen für die gemessene Performanz aussagen, sind longitudinale Untersuchungen eines möglichst breiten Spektrums herkunftssprachlicher Kompetenzen über einen längeren Zeitraum sinnvoll, die zudem den Gebrauch der HS im Alltag, Einstellungen zur Mehrsprachigkeit in der Familie sowie Qualität und Quantität des besuchten herkunftssprachlichen Unterrichts erfassen und diese Daten mit den gemessenen Sprachkompetenzen in erklärende Zusammenhänge bringen.
Eine Fragestellung mit großer Praxisrelevanz lautet, wie HSn in Kindertagesstätten und Schulen erfolgreich vermittelt und gefördert werden können (Mehlhorn 2020). Dafür notwendige didaktische Prinzipien wie Binnendifferenzierung, Scaffolding, die Vermittlung von Bildungs- und Fachsprache sowie die Anbahnung von Sprachbewusstheit werden zunehmend in Rahmenplänen für den Herkunftssprachenunterricht verankert (vgl. z. B. MBWWK 2012). Es gibt dabei keine Hinweise aus der Forschung, dass zusätzlicher Unterricht in der HS negative Auswirkungen auf den Erwerb des Deutschen als L2 hat. Reich (2016) konnte mittelfristig sogar positive Auswirkungen einer integrierten und koordinierten Unterrichtsorganisation des Deutschen und der HS nachweisen. Die Erstellung von Lehrmaterialien für konkrete Herkunftssprachen und die Professionalisierung von Lehrkräften für den herkunftssprachlichen Unterricht stellen dringende Aufgaben dar.
Weiterlesen:
Brehmer, B., & Mehlhorn, G. (2018). Herkunftssprachen. (= Linguistik und Schule, Bd. 4). Tübingen: Narr.
Mehlhorn, G. (2020). Herkunftssprachen und ihre Sprecher/innen. In I. Gogolin, A. Hansen, S. McMonagle & D. Rauch (Hrsg.), Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung. Wiesbaden: Springer, S. 13-19.
Mehlhorn, G. & Brehmer, B. (Hrsg.) (2018): Potenziale von Herkunftssprachen. Sprachliche und außersprachliche Faktoren. (= Forum Sprachlehrforschung, Bd. 14). Tübingen: Stauffenburg.
Zitierte Literatur
Anstatt, T. (2018). Input ohne Output: Rezeptiver Bilingualismus und sein Potenzial. In G. Mehlhorn & B. Brehmer (Hrsg.), Potenziale von Herkunftssprachen. Sprachliche und außersprachliche Faktoren. (= Forum Sprachlehrforschung, Bd. 14). Tübingen: Stauffenburg, S. 15-38.
Kristen, C., Seuring, J., & Stanat, P. (2019). Muster und Bedingungen des Erwerbs und Erhalts herkunftssprachlicher Kompetenzen. In Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 22(1), S. 143-167.
Lynch, A. (2003). The relationship between second and heritage language acquisition. Notes on research and theory building. In Heritage Language Journal 1, S. 26-43.
MBWWK – Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz (2012). Rahmenplan Herkunftssprachenunterricht für die Grundschule und die Sekundarstufe I. Mainz. Online: https://migration.bildung-rp.de/herkunftssprachen-unterricht-hsu.html [12.9.2020].
Olfert, H. (2019). Spracherhalt und Sprachverlust bei Jugendlichen: Eine Analyse begünstigender und hemmender Faktoren für Spracherhalt im Kontext von Migration. Tübingen: Narr Francke Attempto.
Polinsky, M., & Kagan, O. (2007). Heritage Languages: In the ,Wild‘ and in the Classroom. In Language and Linguistics Compass 1(5), S. 365-395.
Reich, H.H. (2016). Auswirkungen unterschiedlicher Sprachförderkonzepte auf die Fähigkeiten des Schreibens in zwei Sprachen. In P. Rosenberg, & C. Schroeder (Hrsg.), Mehrsprachigkeit als Ressource in der Schriftlichkeit. Berlin: Mouton de Gruyter, S. 173-201.