Mehrsprachigkeit
von Prof. Dr. Tobias Schroedler, Universität Duisburg-Essen
Bedeutung
Mit dem Terminus Mehrsprachigkeit wird auf die Nutzung von zwei oder mehreren Sprachen in Kommunikationssituationen verwiesen. Damit kann individueller oder kollektiver Sprachgebrauch, aber auch die sprachliche Gestaltung von Institutionen angesprochen sein (vgl. Grosjean 2013). Zudem bestehen unterschiedliche Positionen darüber, was „Sprache“ in dem Zusammenhang bedeutet. Während nach einem engeren Verständnis hier Sprachen im Sinne „kompletter Systeme“ gemeint sind, sind nach einem weiteren Verständnis auch Varietäten von Sprachen, wie etwa Dialekte, mitgemeint. Die verschiedenen Ebenen werden im Folgenden dargestellt.
Individuelle Mehrsprachigkeit
Individuelle Mehrsprachigkeit bezieht sich auf Sprachgebrauch und Sprachkenntnisse (das sprachliche Repertoire) eines einzelnen Menschen. Historisch betrachtet wurde in der Wissenschaft zunächst der Begriff zweisprachig/Zweisprachigkeit (bilungual/bilingualism) verwendet, um Personen zu beschreiben, die die Fähigkeit besitzen, mehr als eine Sprache zu sprechen (bzw. zu verstehen, zu lesen und zu schreiben). Leonard Bloomfield definiert im Jahr 1933, dass Zweisprachigkeit bedeute, ein „muttersprachliches“ Niveau (native-like control) in zwei oder mehr Sprachen zu haben. Die Idee, dass zwei Sprachen nicht nur besonders gut ausgeprägt, sondern auch in der gleichen Weise beherrscht werden müssen, um als zweisprachig zu gelten, war in den Anfängen der Mehrsprachigkeitsforschung Konsens. Erste davon abweichende, und zugleich weitergehende Verständnisse von Zwei- oder Mehrsprachigkeit traten in den 1950er Jahren auf. Robert Hall beispielsweise postulierte 1952, dass auch ein Mensch zweisprachig sei, der zumindest etwas Wissen und Kenntnis der Grammatik einer zweiten Sprache habe. Parallel zu solchen großzügigeren, flexibleren Verständnissen von Zweisprachigkeit kam auch der Begriff Mehrsprachigkeit vermehrt in Gebrauch. Mit dem Einsetzen von Entkolonialisierung und verstärkter Migration Mitte des 20. Jahrhunderts stieg die Auseinandersetzung mit dem Thema Mehrsprachigkeit in der europäischen Wissenschaftslandschaft (Coulmas 2018). Es wurde zunehmend zum Konsens, dass individuelle Zwei- oder Mehrsprachigkeit keineswegs zu bedeuten habe, dass eine Person zwei Sprachen gleich gut oder „auf muttersprachlichem Niveau“ beherrschen müsse, um als mehrsprachig zu gelten.
Inzwischen gehen Ideen und Definitionen von individueller Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit oder dem sprachlichen Repertoire eines Menschen über die Vorstellung von voneinander abgegrenzten Sprachen hinaus. Auch die sogenannte innersprachliche Mehrsprachigkeit (beispielsweise das Verfügen über Dialekte oder sprachliche Register, wie etwa Jugendsprache oder die speziellen Ausdrucksweisen einer Berufsgruppe) spielt eine Rolle im mehrsprachigen Fähigkeitsspektrum eines Menschen. Gleiches gilt im Übrigen auch für Ausdrucksweisen, die in anderen als gesprochenen Formen erfolgen (wie Gebärdensprachen). In einer Definition von Gogolin und Lüdi heißt es: „Rein funktional wird individuelle Mehrsprachigkeit als Fähigkeit definiert, in mehreren Sprachkontexten zu kommunizieren – und dies unabhängig davon, auf welche Weise die beteiligten Sprachen erworben oder wie gut sie beherrscht werden“ (Gogolin und Lüdi 2015). In diesem Ansatz zeigt sich, dass nicht von Sprachen als abgrenzbaren Entitäten (siehe Piller 2016) die Rede ist, und dass es weder darauf ankommt wie die Sprachkompetenz erworben wurde, noch darauf, wie hoch das Niveau des/der Sprecher*in jeweils ist: Mehrsprachigkeit in diesem Sinne ist ein Merkmal individueller sprachlicher Fähigkeiten und sprachlicher Praxis. Unterschieden werden kann danach, (1) wie reich an Varianten das sprachliche Repertoire einer Person ist, und (b) über welche Möglichkeiten eine Person verfügt, die ihr zur Verfügung stehenden Varianten sicher und situationsgemäß einzusetzen.
Weitere Beschreibungskategorien individueller Mehrsprachigkeit beinhalten beispielsweise Fragen des Erwerbsalters (ob Menschen von früher Kindheit an in Kontakt mit mehreren Sprachen oder Varietäten sind), der Erwerbsfolge (ob Menschen ihre Sprachen gleichzeitig oder nacheinander erwerben, simultan/sequenziell/sukzessiv) sowie des Erwerbsumfelds (ob die sie in Angebotsformen institutioneller Bildung oder in ihrer Lebenswelt, also der Familie oder dem weiteren Umfeld erwerben).
Hinsichtlich der Definition individueller Mehrsprachigkeit sind etliche Fragen nach wie vor wissenschaftlich umstritten. Dazu gehört beispielsweise die Frage, welche Vorteile genau individuelle Mehrsprachigkeit mit sich bringt – ob sie sich etwa beim Lernen weiterer Sprachen auszahlt oder inwieweit der Nutzen abhängig ist vom Prestige der Sprachen bzw. Varianten, aus denen sie jeweils zusammengesetzt ist. Weitgehender Konsens besteht jedoch darüber, dass ausgebaute individuelle Mehrsprachigkeit von Vorteilen begleitet ist (z. B. verspätetes Einsetzen von Demenzsymptomen, Vorteile am Arbeitsmarkt bei Kenntnis bestimmter Sprachen), und dass sie (entgegen tradierter Überzeugungen) global betrachtet eher ein Regel- als ein Ausnahmefall ist.
Institutionelle, gesellschaftliche, territoriale Mehrsprachigkeit
Der Terminus Mehrsprachigkeit wird auch genutzt, um die sprachliche Gestalt von Institutionen, Gruppen, Gesellschaften oder anderen Kollektiven zu beschreiben. Zu den mehrsprachigen Institutionen gehört beispielsweise die Europäische Union, die in ihrer Konstitution festgeschrieben hat, dass die Sprachen der Mitgliedsstaaten gleichwertig zu behandeln sind. Ist von mehrsprachigen Gesellschaften, Staaten, Städten, usw. die Rede, so kann unterschiedliches gemeint sein. Auf der einen Seite kann darauf angespielt sein, dass die Personen, die in diesen Räumen zusammenkommen, eine mehrsprachige Praxis pflegen – also eine schlichte Beschreibung alltäglicher Realität. Zum anderen aber können Regelungen gemeint sein, die die sprachliche Konstitution eines Raumes, einer Region oder Institution betreffen. Diese lassen sich grob in vier Prägungen aufteilen:
Staatliche Mehrsprachigkeit: Diese Form findet sich beispielsweise in der Schweiz, Belgien, Kanada oder Südafrika. In den genannten Fällen ist die Koexistenz von Sprachen, die innerhalb eines Landes genutzt werden, rechtlich geregelt. Dabei kann es sich um territoriale Regelungen handeln, wie etwa in der Schweiz oder in Belgien, wo jeweils eine Sprache als „Hauptsprache“ einer Region gilt. Es kann sich aber auch um Regelungen handeln, nach denen verschiedenen Sprachen die gleichen Rechte im gesamten Staatsgebiet zugesprochen werden (wie etwa in Südafrika, wo 11 „Nationalsprachen“ definiert sind).
Sprachliche Minderheiten: Eine andere Form der Regelung gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit ist es, sogenannten altansässigen (autochthonen, indigenen) Sprachen Minderheitenrechte einzuräumen. Prominente Beispiele hierfür in Europa sind die Regionalsprachen Spaniens (Baskisch, Katalanisch, Galizisch); die samischen Sprachen in Teilen Skandinaviens, Finnland und Russland; oder das Sorbische, Dänische oder Friesische in Deutschland. Diesen Sprachen sind je nach politischem Kontext verbriefte Rechte eingeräumt. Kennzeichnend für diese Rechte ist es, dass sie nicht allgemein gelten, sondern nur in dafür ausgewiesenen Regionen; zum Teil sind sie damit verbunden, dass Personen ein „Bekenntnis der Zugehörigkeit“ zu einer Gruppe, in der die Sprache verbreitet ist, ablegen, um von den Rechten Gebrauch machen zu können (Gogolin & Oeter 2011).
Fremdsprachenangebote und Medien: Ein weiterer Grund für das Vorkommen anderer Sprachen als der (den) Mehrheitssprache(n) in einer Gesellschaft ist fremdsprachliche Schulbildung. Gegenwärtig ist durch den schulischen Englischunterricht die Mehrheit der Personen, die eine Schulbildung in Deutschland durchlaufen, mehr oder weniger gut zur Nutzung von Englisch in der Lage. Aber es werden auch zahlreiche andere Sprachen als schulische Fremdsprachen angeboten; die „Beliebtheit“ verändert sich mit der Zeit und dem Angebot, das gemacht wird. So war das Russische beispielsweise die meistgelernte Fremdsprache in der Deutschen Demokratischen Republik bis 1989 und eine wenig angebotene Fremdsprache in den westdeutschen Bundesländern. Inzwischen wird diese Sprache insgesamt nur noch von wenigen Schüler/innen gewählt. Andere Fremdsprachen wie das Spanische oder das Mandarin wecken zunehmend Interesse. Das Lernen und die Nutzung solcher Sprachen nehmen insgesamt zu; das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es im Kontext der zunehmenden internationalen Verflechtungen auch beruflich gewinnbringend sein kann, neben dem Englischen auch andere Sprachen zu beherrschen. Zudem sind durch die Verfügbarkeit von Medien in den verschiedenen Sprachen zusätzliche Quellen für Sprachaneignung und Sprachgebrauch gegeben.
Die Unterteilung in verschiedene Formen der Prägung mehrsprachiger Gesellschaften dient als Orientierung für präzisere Beschreibungen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit. Klar ist, dass alle Formen gleichzeitig und vermengt in Gesellschaften auftreten. Nehmen wir Kanada als Beispiel: Hier ist die gleichberechtigte Koexistenz von Englisch und Französisch konstitutionell verankert. Gleichzeitig ist im Land eine Vielzahl von Sprachen indigener Einwohnerinnen und Einwohner vorhanden. Die Kinder und Jugendlichen erhalten fremdsprachliche Bildung in der Schule. Und die Einwanderung bringt eine große Zahl von Herkunftssprachen in die Gesellschaft ein. Selbstverständlich können die Quellen für gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in unterschiedlichen Staaten unterschiedlich ausgeprägt sein; zuweilen sind auch formale Regelungen schlicht nicht vorhanden. Deutlich geworden sein sollte aber, dass Mehrsprachigkeit (in ihren unterschiedlichen Ausprägungen) in komplexen Gesellschaften der Regelfall ist.
Weiterlesen
Aronin, L. and Hufeisen, B. (eds) (2009). The Exploration of Multilingualism. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company.
Blommaert, J. and Spotti, M. (2017). Bilingualism, Multilingualism, Globalization and Superdiversity: Toward Sociolinguistic Repertoires. In O. Garcia, N. Flores and M. Spotti (eds) The Oxford Handbook of Language and Society (pp. 161-178). Oxford: Oxford University Press.
Diverse Kapitel in: Gogolin, I., Hansen, A., McMonagle, S. & Rauch, D. (Hrsg.) (2020) Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung. Wiesbaden: Springer.
Maher, J.C. (2017). Multilingualism: A very short Introduction. Oxford: Oxford University Press.
Schroedler, T. (2021). What is Multilingualism? Towards an inclusive understanding. In Wernicke, M., Hammer, S., Hansen, A. & Schroedler, T. (eds). Preparing Teachers to work with multilingual learners (pp. 17-37). Bristol: Multilingual Matters.
Singleton, D. and Aronin, L. (eds) (2019). Twelve Lectures on Multilingualism. Bristol: Multilingual Matters.
Zitierte Literatur
Bloomfield, L. (1933). Language. New York NW: Allen & Unwin.
Coulmas, F. (2018). An Introduction to Multilingualism: Language in a Changing World. Oxford: Oxford University Press.
Gogolin, I., & Lüdi, G. (2015). Mehrsprachigkeit: Was ist Mehrsprachigkeit? In vielen Sprachen sprechen. Redaktion Magazin Sprache, Goethe-Institut. https://www.goethe.de/de/spr/mag/sta/20492171.html
Gogolin, I. & Oeter, S. (2011). Sprachenrechte und Sprachminderheiten – Übertragbarkeit des internationalen Sprachenregimes auf Migrant(inn)en. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB) 59(1), 30-45.
Grosjean, F. (2013). Bilingualism: A short introduction. In Grosjean, F. & Li, P. (2013) The Psycholinguistics of Bilingualism (pp. 5-25). Malden, MA & Oxford: Wiley-Blackwell.
Hall, A.R. (1952). Bilingualism and applied linguistics. Zeitschrift für Phonetik und allgemeine Sprachwissenschaft 6, 13-30.
Piller, I. (2016). Linguistic Diversity and Social Justice: An Introduction to Applied Sociolinguistics. New York, NY: Oxford University Press.