Imki
Effekte einer aktiven Integration von Mehrsprachigkeit in Kindertageseinrichtungen
Projektvorstellung
Kindertageseinrichtungen stehen heute einer Vielzahl erstsprachlicher Hintergründe der Kinder gegenüber. Für das pädagogische Personal ergibt sich daraus die Frage, wie mit dieser sprachlichen Vielfalt umgegangen werden soll. In Praxisempfehlungen wird geraten, die unterschiedlichen Erstsprachen der Kinder aktiv in den Alltag der Einrichtungen zu integrieren. Dies soll die bilinguale Kompetenzentwicklung sowie die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder unterstützen. Bisher liegen kaum Erkenntnisse darüber vor, welche Effekte eine solche Integration der sprachlichen Vielfalt in Kindertageseinrichtungen hervorruft. Ziel der IMKi-Studie ist es daher, Bedingungen für ein gelingendes mehrsprachiges Aufwachsen in der Kita zu identifizieren. Im Fokus stehen dabei migrationsbedingt mehrsprachig aufwachsende Kindergartenkinder (3-6 Jahre) – insbesondere der Sprechergruppen Türkisch und Russisch.
Methodisches Vorgehen
Es handelt sich um eine Interventionsstudie mit sechs Messzeitpunkten, welche von 2014 bis 2021 in 19 Kindertageseinrichtungen in Süddeutschland durchgeführt wurde. Die teilnehmenden Einrichtungen wurden zufällig in zwei Gruppen aufgeteilt und erhielten beide vier Jahre lang kitainterne Weiterbildungen zum Umgang mit sprachlicher Vielfalt und Mehrsprachigkeit. Die Interventionsgruppe 1 wurde deutlich spezifischer und strukturierter am Thema der Implementation unterschiedlicher Strategien zur Verankerung von sprachlicher Vielfalt in den Einrichtungen begleitet. Den Kitas der Interventionsgruppe 2 war die Ausgestaltung der Weiterbildung zum Thema freigestellt. Sie werden daher als Kontrollgruppe betrachtet. Veränderungen, die sich durch die Weiterbildungen ergeben, werden auf der Kind-, Einrichtungs- und Elternebene erfasst. Hierfür fanden sechs Messzeitpunkte im jährlichen Abstand (2015-2020) statt.
Kindebene: Zu jedem Messzeitpunkt wurden verschiedene Teilkompetenzen im Deutschen und in den Erstsprachen Russisch und Türkisch ermittelt. Weiterhin wurden sozio-emotionale Faktoren (z.B. prosoziales Verhalten, Problemverhalten, Selbstregulationsverhalten, soziale Kompetenzen etc.) sowie das frühkindliche Selbstkonzept von mehrsprachigen Kindern erhoben.
Einrichtungsebene: Auf der Einrichtungsebene wurden Struktur- (z. B. Anteil mehrsprachig aufwachsender Kinder in der Gruppe), Raum- (z. B. Vorhandensein von zwei- und mehrsprachigen Materialien) und Prozessmerkmale (z.B. sprachförderliche Interaktionen) durch geschulte Beobachterinnen und Beobachter erfasst. Darüber hinaus wurden der (aus-)bildungsbiographische Hintergrund und die Persönlichkeitsmerkmale des pädagogischen Personals sowie deren Einstellungen und Wissen zum Thema Mehrsprachigkeit ermittelt.
Elternebene: Auf Elternebene wurden der sozioökonomische Status, der Migrationshintergrund, Informationen zum Sprachgebrauch, dem Umgang mit Mehrsprachigkeit im Familienalltag und der Akkulturation erfasst. Ebenfalls wurden die Eltern nach ihrer Zufriedenheit mit der Einrichtung im Allgemeinen und der Sprachförderung im Besonderen, sowie der Inanspruchnahme von Kooperationsmaßnahmen und Partizipationsmöglichkeiten befragt.
Ergebnisse
Auf der Kindebene wird deutlich, dass die türkischdeutsch aufwachsenden Kinder mit guten Sprachkenntnissen in ihrer Familiensprache Türkisch in den Kindergarten kommen (v.a. in Bezug auf den aktiven und passiven Wortschatz) und wie erwartet dort vermehrt beginnen, mehr Deutsch zu lernen. Werden die Kinder älter, wird allerdings ein relatives Absinken des aktiven türkischen Wortschatzes bei langsam ansteigenden Deutschkenntnissen ersichtlich. Übergreifend zeigt sich der deutliche Einfluss eines Sprachverarbeitungsmaßes wie dem phonologischen Gedächtnis – es finden sich signifikante Korrelationen zwischen Maßen des phonologischen Gedächtnisses in einer Sprache (z.B. Türkisch) und allgemeinen sprachlichen Kompetenzen in der anderen Sprache (z.B. Deutsch). Versucht man Kompetenzen in beiden Sprachen sowie ein Gesamtmaß der Sprachkompetenz vorherzusagen, ist ebenfalls das phonologische Gedächtnis ein entscheidender Faktor, der gelingende Mehrsprachigkeit ebenso mitzubestimmen scheint wie Umweltfaktoren in der Familie (sprachlicher Anregungsgehalt oder eine ausgewogenen Sprachverwendung beider Sprachen von Müttern und Geschwistern) und der frühen Bildung (wie ein früher Eintritt in Kindertagesstätten).
In Bezug auf sozio-emotionale Kompetenzen werden die mehrsprachigen Kinder als Gesamtgruppe nicht als problematisch oder auffällig wahrgenommen. Allerdings besteht ein Zusammenhang zwischen Fähigkeiten in der Zweitsprache Deutsch, teilweise auch in der Erstsprache Türkisch und den sozio-emotionalen Kompetenzen der Kinder: höhere sprachliche Kompetenzen gehen mit höheren Kompetenzen im sozialen, aber auch im emotionalen Bereich einher. Dabei sagen die früheren sozio-emotionalen Kompetenzen der Kinder den Zuwachs an sprachlichen Leistungen im Deutschen über den Zeitraum von zwei Jahren vorher. Denkbar ist, dass es Kindern mit gut ausgeprägten sozio-emotionalen Fähigkeiten eher gelingt, in sprachförderliche Interaktionen involviert zu sein und so sprachliche Anregungen zu bekommen und entsprechende Fähigkeiten auszubauen.
Innerhalb der teilnehmenden Einrichtungen beobachten wir eine große Vielfalt an Herkunftssprachen, von denen neben der deutschen Sprache mindestens neun weitere (am häufigsten Türkisch und Russisch) vorhanden sind. Die pädagogischen Fachkräfte zeigen sich tendenziell sehr offen gegenüber der Mehrsprachigkeit der Kinder. Der Einbezug von Mehrsprachigkeit in den Kita- Alltag gelingt jedoch bisher nur vereinzelt. Analysen aus dem ersten Messzeitpunkt zeigen eine Bedeutung von Einstellungen und Wissen der pädagogischen Fachkräfte zur Mehrsprachigkeit hierfür auf. Nicht relevant ist dagegen, ob die pädagogische Fachkraft selbst mehrsprachig ist. Mehrsprachige Fachkräfte sprechen sich im Gegenteil eher für eine sprachliche Anpassung der mehrsprachigen Kinder an das Deutsche aus. Veränderungen konnten bislang durch die Intervention beim Wissen der Fachkräfte über Mehrsprachigkeit erreicht werden, Einstellungen erwiesen sich demgegenüber als eher stabil, leichte Effekte in Bezug auf eine mehrsprachigkeitsintegrierende Einstellung lassen sich erst zum vierten Messzeitpunkt, nach drei Jahren Intervention, nachweisen. Ebenso stellen sich im Kindergartenalltag nur langsam Veränderungen in Bezug auf die Wertschätzung der Herkunftssprachen der Kinder ein. Peer-Interaktionen in der Herkunftssprache werden verstärkt zugelassen, in der Raumgestaltung wird Mehrsprachigkeit verstärkt sichtbar und es findet sich zunehmend mehrsprachiges Informationsmaterial für Eltern. Diese Veränderungen zeigen sich als abhängig von den Einstellungen, nicht jedoch vom Wissen der Fachkräfte. Fachkräfte, die in der Mehrsprachigkeit eine Bereicherung sehen, setzten Konzepte der Integration von Mehrsprachigkeit stärker in der Praxis um.
Implikationen für die Praxis
Die sprachlichen Ausgangsbedingungen der Kinder sollten genutzt werden, um sie erfolgreich in all ihren Sprachen im Laufe des Kindergartens zu unterstützen. Damit dies gelingen kann, ist eine Reflexion der Einstellungen pädagogischer Fachkräfte gegenüber Mehrsprachigkeit erforderlich. Das Wissen in Bezug auf ein professionelles Handeln unter Bedingungen von sprachlicher Vielfalt und Mehrsprachigkeit ist zwar erweiterbar, für die Umsetzung dieses Wissens in die Praxis sind jedoch konkrete Handlungsstrategien in Bezug auf den Einbezug von Mehrsprachigkeit notwendig. Alleine die Beschäftigung von mehrsprachigem Personal in Kindertageseinrichtungen lässt vor dem Hintergrund der großen sprachlichen Vielfalt keine Verbesserung der Situation erwarten. Auch diese müssen einen Reflexionsprozess und eine Wissenserweiterung durchlaufen, um ihre eigene Mehrsprachigkeit positiv in der Praxis einzusetzen.
Publikationen aus dem Projekt
Kratzmann, J.; Sachse, S. & Sawatzky, A. (2020). Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen - Über das Zusammenspiel von Wissen, Einstellungen und Handeln. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 23, S. 539–564. https://doi.org/10.1007/s11618-020-00946-w
Ertanir, B., Kratzmann, J., Jahreiss, S., Frank, M. & Sachse, S. (2019). Sozio-emotionale Kompetenzen mehrsprachiger Kindergartenkinder und deren Wechselwirkungen mit deutschen Sprachleistungen. In Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 51 (1), S. 31 – 44. doi: 10.1026/0049-8637/a000207
Jahreiß, S., Ertanir, B., Sachse, S. & Kratzmann, J. (2018). Sprachliche Interaktionen in Kindertageseinrichtungen mit hohem Anteil an mehrsprachigen Kindern. Zeitschrift Forschung Sprache (PDF), S. 32-41.
Kratzmann, J. & Sachse, S. (2018). Entwicklung von Dispositionen pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen durch eine In-House Weiterbildung. Zeitschrift Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, S. 403-416.
Ertanir, B., Kratzmann, J., Frank, M., Jahreiß, S. & Sachse, S. (2018). Dual Language Competences of Turkish-German children growing up in Germany: supportive factors of a functioning dual language development, Frontiers in Psychology, S. 1-11. doi: 10.3389/fpsyg.2018.02261
Jahreiß, S., Ertanir, B., Frank, M., Sachse, S., & Kratzmann, J. (2017). Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit in sprachlich heterogenen Kindertageseinrichtungen. Diskurs Kindheits-und Jugendforschung, 12(4), S. 439–453 doi: 10.3224/diskurs.v12i4.05
Kratzmann, J., Jahreiß, S., Frank, M., Ertanir, B. & Sachse, S. (2017). Einstellungen pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen zur Mehrsprachigkeit. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 2, S. 237-258. doi: 10.1007/s11618-017-0741-7
Kratzmann, J., Jahreiß, S., Lau, M., Ertanir, B. & Sachse, S. (2017). Standardisierte Erfassung von Einstellungen zur Mehrsprachigkeit in Kindertageseinrichtungen. Dimensionierung eines mehrdimensionalen Konstrukts. Frühe Bildung, 6 (3), S. 133-140. doi: 10.1026/2191-9186/a000329