Mehrschriftlichkeit
Zur Wechselwirkung von Sprachkompetenzen in Erst- und Zweitsprache und außersprachlichen Faktoren
Projektvorstellung
Das Projekt hatte zum Ziel, die Wechselwirkungen von schriftsprachlicher Kompetenz in Erst- und Zweitsprache bei bilingualen Schülerinnen und Schülern des 9. und 10. Schuljahres mit Türkisch, Italienisch und Griechisch als Herkunftssprache zu untersuchen. Dabei sollten die Einflüsse außersprachlicher Faktoren (z. B. Einstellung zur Sprache, literale Praktiken, Sprachgebrauch etc.) und des metasprachlichen Bewusstseins (dies betrifft sprachliche Aspekte unter Einbezug von Kognition [Wissen über Grammatik, Regeln und Sprachfunktionen] und Performanz [Verwendung der Sprache/Sprachgebrauch, Kommunikationsstrategien und die Tätigkeit des Sprechens über Sprache]) auf die Textkompetenz in beiden Sprachen beleuchtet werden. Hierzu wurden die folgenden Hypothesen überprüft:
- Es besteht eine Wechselwirkung zwischen der Textkompetenz in der Erstsprache (L1) und der Zweitsprache (L2): Eine hohe Textkompetenz in der L 1 bedingt eine hohe Textkompetenz in der L2
- Außersprachliche Faktoren und metasprachliches Bewusstsein beeinflussen die Textkompetenz in der L1 und L2
Methodisches Vorgehen
Die Stichprobe umfasste 206 Probandinnen und Probanden mit den Herkunftssprachen Italienisch (68), Griechisch (60) und Türkisch (78).
Zur Ermittlung der Textkompetenz wurden zwei Aufgaben konzipiert, die jeweils einen narrativen und argumentativen Text elizitieren sollten. Die Texte wurden im Abstand von vier Wochen in der L1 und L2 erhoben. Für die Beurteilung der Textkompetenz in den jeweiligen Sprachen wurde ein Modell entwickelt, mit dem es möglich ist, die Textkompetenz global zu erfassen. Dabei wurden die Makro- und Mikrostruktur, der Diskursmodus (konzeptionell mündliche bzw. schriftliche Strukturen) und die kommunikative Grundhaltung (Distanzierung vs. Involvierung) berücksichtigt. Basierend auf diesen Kriterien wurde ein detailliertes Analyseraster für jede Textsorte erstellt, das fünf Textniveaustufen umfasst.
Zur Erfassung des metasprachlichen Bewusstseins wurde, auf Grundlage des Sprachbewusstheitstests von Fehling (2005), ein Test entwickelt, der die Komponenten pragmatisches, semantisches und textuelles Wissen in L 1 und L 2 abbilden kann. Die Antworten wurden hinsichtlich ihrer Angemessenheit anhand einer Skala von 1 bis 4 gerankt. Daraus ergeben sich Werte auf der semantischen, pragmatischen und textuellen Ebene in der L1 und L2 sowie der Gesamtwert für metasprachliche Bewusstsein.
Zur Überprüfung des Einflusses außersprachlicher Faktoren auf die Textkompetenz dienten Interviews mit den Jugendlichen in L1 und L2 sowie den Eltern mit Fragen zu Spracheinstellungen, sprachlichem Input und Sprachgebrauch (mündlich und schriftlich), Besuch des herkunftssprachlichen Unterrichts, literale Praktiken im Elternhaus etc.
Ergebnisse
Die Ergebnisse zeigen, dass die Probandinnen und Probanden der drei Sprachgruppen bei den argumentativen Texten in der L2 (Deutsch) ein höheres Niveau als in der L1 erzielen. Die argumentativen Texte in der L 1 weichen auf der Ebene der Textstruktur (Makrostruktur) von der jeweiligen kulturspezifisch geprägten Struktur ab, was mit dem fehlenden Erwerb der entsprechenden Muster in der L1 erklärt werden kann. Im Vergleich zu den Argumentationen wird bei den Narrationen ein höheres Textniveau in beiden Sprachen erreicht. Generell gilt, dass bei Probandinnen und Probanden, die eine hohe Textkompetenz in der Herkunftssprache aufweisen, auch eine ebenso hohe Kompetenz im Deutschen vorliegt.
Die Ergebnisse weisen weiter auf einen signifikanten Zusammenhang zwischen metasprachlichem Bewusstsein und den Textkompetenzen hin.
Die Korrelationsanalyse der außersprachlichen Faktoren macht deutlich, dass der muttersprachliche Unterricht erst bei einer Dauer von sieben Jahren einen positiven Einfluss auf die Textkompetenz in der Herkunftssprache ausübt. Dies könnte aber auch mit anderen Faktoren wie z. B. der Gestaltung des Unterrichts (v. a. wenn er außerhalb des Regelunterrichts stattfindet) zusammenhängen. Insgesamt lässt sich zeigen, dass Unterricht in der Herkunftssprache (auch in Programmen, in denen die L1 Sprache des Unterrichts ist) keinen negativen Einfluss auf die Entwicklung der Schreibfähigkeiten in der L2 hat.
Ein weiteres Ergebnis ist, dass das Lesen von Büchern und das Schreiben komplexerer Texttypen (Essays, Tagebücher, Geschichten) den höchsten positiven Einfluss auf die Textkompetenz (in L1 und L2) ausübt.
Implikationen für die Praxis
- Die Sprachförderung von mehrsprachigen Kindern sollte in beiden Sprachen erfolgen.
- Bei der Förderung der L1 leidet die L2 nicht, sondern wird im Gegenteil gestärkt.
- Die Förderung des metasprachlichen Bewusstseins, d. h. ein differenziertes Wissen über sprachliche Strukturen und Sprachgebrauchsregeln, sollte im Unterricht stärker berücksichtigt werden.
- Zur mehrsprachigen Förderung gehört auch der Erwerb von Schriftlichkeit (Literalität). Es sollte ein Konzept entwickelt werden, z.B. im Sinne einer kontrastiven Sprachdidaktik, in dem die unterschiedlichen Textmuster und rhetorisch-stilistische Unterschiede in den jeweiligen Sprachen gegenübergestellt werden.
Publikationen aus dem Projekt
Riehl, C. M. (demn.). Multiliteracy. The interdependence of L1 and L2 and extra-linguistic factors. In The Heritage Language Journal.
Riehl, C. M., Yilmaz-Woerfel, S., Barberio, T. & Tasiopoulou, E. (2018). Mehrschriftlichkeit. Zur Wechselwirkung von Sprachkompetenzen in Erst- und Zweitsprache und außersprachlichen Faktoren. In B. Brehmer und G. Mehlhorn (Hrsg.) Potentiale von Herkunftssprachen: Sprachliche und außersprachliche Einflussfaktoren. Narr: Stauffenburg, S. 93-116.
Yilmaz-Woerfel, S. & Riehl, C. M. (2016). Mehrschriftlichkeit: Wechselseitige Einflüsse von Textkompetenz, Sprachbewusstheit und außersprachlichen Faktoren. In C. Schroeder und P. Rosenberg (Hrsg.) Mehrsprachigkeit als Ressource in der Schriftlichkeit. Berlin: de Gruyter, S. 304-336. https://doi.org/10.1515/9783110401578-015
Barberio, T. (2019). Schreiben in zwei Sprachen: Argumentative und narrative Texte bilingualer italienisch-deutscher Schülerinnen und Schüler. Dissertation: Ludwig-Maximilians-Universität, München.
Barberio, T. (2020). Sprachkontaktphänomene bilingualer italienisch-deutscher Schüler am Beispiel argumentativer Texte. In P. N. A. Hanna, B. Sonnenhauser, C. Trautmann & D. Holl (Hrsg.) Diskussionsforum Linguistik in Bayern: Mehrsprachigkeit und Variation (PDF), 7, S. 1 – 25.