MehrSprachen
Eine Interventionsstudie zur Fördeurng von Sprachkompetenzen und Sprachbewusstheit in der Grundschule
Projektvorstellung
Das Projekt „MehrSprachen“ befasst sich mit dem Transfer der im Vorläuferprojekt »Sprachkompetenzen und Sprachbewusstheit« gewonnenen Erkenntnisse in die unterrichtliche Praxis. Es werden Auswirkungen eines sprachreflexiven Deutschunterrichts, in dem explizit Sprachthematisierungen herbeigeführt werden, auf die metasprachlichen Kompetenzen mono- und multilingualer Schülerinnen und Schüler am Ende der Primarstufe untersucht. Die zentrale Fragestellung lautet, ob Schülerinnen und Schüler von einem Deutschunterricht, in dem sprachliche Phänomene explizit und durch Einbeziehung mehrerer Sprachen thematisiert werden, profitieren, sich dies also in ihrer Sprachbewusstheit zeigt.
Methodisches Vorgehen
Die Studie folgt einem Experimental- und Kontrollgruppendesign (N=408). Zu Beginn wurde ein Konzept eines an Mehrsprachigkeit und Sprachreflexion orientierten Deutschunterrichts in enger Verzahnung zwischen Theorie und Praxis entwickelt. Hierzu wurden mittels einer Delphi-Studie der aktuelle Wissensstand in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Sprachbewusstheit sowie die Bedarfe der Lehrkräfte erfasst (Andronie et al. 2019). Im Mittelpunkt des Konzepts steht die Entwicklung der Sprachreflexionsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler sowie der Kompetenz der sprachvergleichenden Betrachtung, die in den Bildungsstandards (2004) als eine Zielkompetenz verankert ist. Im Anschluss an die Konzeptentwicklung wurde eine Teilstichprobe von Lehrkräften (N=18) zur Nutzung von Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht fortgebildet, während die andere Hälfte (N=17) ihren Unterricht ohne zusätzliche Fortbildung durchführte. Im Laufe der Fortbildung wurde die Expertise der Lehrkräfte sowohl in den Reflexionsrunden an den Präsenzterminen als auch in wöchentlich stattfindenden digitalen Rückmeldungen (mittels Fragebogen) zu Methoden und Materialien einbezogen und genutzt.
Um die Wirksamkeit der Intervention überprüfen zu können, wurden auf der Schülerebene in der Experimentalgruppe (N=211) und der Kontrollgruppe (N=198) direkt nach der Intervention und sechs Monate später Sprachbewusstheit mit dem Elizitationsverfahren M-Spra sowie Sprachkompetenzen und allgemeine kognitive Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler erfasst. Auf der Lehrkraftebene wurden an drei Messzeitpunkten Einstellungen zu und Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit sowie Motivation erhoben.
Ergebnisse
Es zeigt sich, dass ein sich an Sprachreflexion und Sprachvergleich orientierender und Mehrsprachigkeit nutzender Deutschunterricht eine positive Wirkung auf die Entwicklung von Sprachbewusstheit bei Schülerinnen und Schülern am Ende der Grundschule hat. Schülerinnen und Schüler der Experimentalgruppe zeigen, gemessen direkt nach Ende der sechsmonatigen Intervention, signifikant höhere Sprachbewusstheitswerte (operationalisiert als die Gesamtzahl metasprachlicher Äußerungen) als Schülerinnen und Schüler aus der Kontrollgruppe. Darüber hinaus konnten Unterschiede in der Differenziertheit und Tiefe metasprachlicher Reflexion zwischen den beiden Gruppen festgestellt werden. Schülerinnen und Schüler der Experimentalgruppe tätigen signifikant mehr hierarchiehöhere metasprachliche Äußerungen (Erklärungen und Analysen) im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern der Kontrollgruppe. Dies deutet darauf hin, dass der Deutschunterricht, der Mehrsprachigkeit zum Sprachvergleich einbezieht und nutzt, sich positiv auf die Herausbildung von sprachanalytischen Fähigkeiten auswirkt.
Vergleicht man die Werte für Sprachbewusstheit von lebensweltlich einsprachig deutschen und lebensweltlich mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern der Experimental- und Kontrollgruppe, so zeigt sich, dass sowohl mehrsprachige als auch primärsprachlich deutsche Schülerinnen und Schüler der Experimentalgruppe höhere Sprachbewusstheitswerte aufweisen als Schülerinnen und Schüler der Kontrollgruppe. Der Unterschied ist jedoch bei den lebensweltlich einsprachig deutschen Schülerinnen und Schülern besonders groß. Es kann vermutet werden, dass von einem sprachvergleichenden, Mehrsprachigkeit als sprachliche Ressource nutzenden Deutschunterricht in besonderem Maße lebensweltlich einsprachig deutsche Schülerinnen und Schüler profitieren. Im Unterschied zu den lebensweltlich mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern, die durch das Leben mit zwei Sprachsystemen eher die Möglichkeit haben, Sprachen zu vergleichen, kann, so vermuten wir, diese Möglichkeit für lebensweltlich einsprachig deutsche Schülerinnen und Schüler nur durch den Unterricht geschaffen werden.
Implikationen für die Praxis
Die Ergebnisse der Studie haben gezeigt, dass sich Sprachbewusstheit von lebensweltlich ein- und mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern in der zweiten Hälfte der Grundschulzeit durch einen Deutschunterricht, der Sprachreflexion als Unterrichtsprinzip anwendet und in diesem Rahmen die lebensweltliche und durch den Fremdsprachenunterricht erzeugte Mehrsprachigkeit als Ressource nutzt, fördern und entwickeln lässt.
Insofern kann als Erstes festgehalten werden, dass die Nutzung von Mehrsprachigkeit mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern zur höher entwickelten Sprachbewusstheit verhilft. Für primärsprachig deutsche Schülerinnen und Schüler hingegen, die die Möglichkeit, über andere Sprachen nachzudenken und sie systematisch mit dem Deutschen zu vergleichen, außerhalb des Unterrichts eher nicht haben, ist es, wie die Studie gezeigt hat, umso wichtiger, im Deutschunterricht dazu angeregt zu werden, durch den Blick „von außen“ mehr Bewusstheit und Reflektiertheit in Bezug auf die deutsche Sprache zu entwickeln. Hierzu kann ein sprachreflexiver und sprachvergleichender Deutschunterricht (siehe dazu Bien-Miller & Wildemann 2020) beitragen.
Publikationen aus dem Projekt
Wildemann, A., Andronie, M., Bien-Miller, L., & Krzyzek (2020). Sprachliche Übergänge im Deutschunterricht (schaffen) - eine Interventionsstudie mit Grundschullehrerinnen und -lehrern. In A. Budde & F. Prüsmann (Hrsg.) Vom Sprachkurs Deutsch als Zweitsprache zum Regelunterricht: Übergänge bewältigen - ermöglichen - gestalten. Münster: Waxmann.
Bien-Miller, L. & Wildemann, A. (2020). Mehrsprachigkeit als Ressource für Sprachbetrachtung nutzen. (K)ein Konsens zwischen Theorie und Praxis möglich? In Der Deutschunterricht, 2/20, S. 62-70.
Andronie, M., Krzyzek, S., Bien-Miller, L. and Wildemann, A. (2019). Theory and practice: from Delphi-study to pedagogical training. In Qualitative Research Journal, Vol. ahead-of-print No. ahead-of-print. https://doi.org/10.1108/QRJ-03-2019-0031
Bien-Miller, L., Wildemann, A., Andronie, M., & Krzyzek, S. (2019). Handlungsrelevante Überzeugungen zu Mehrsprachigkeit und deren Bedeutung für die Professionalisierung von Lehrkräften. In A. Schmölzer-Ebinger & M. Akbulut (Hrsg.) Mit Sprache Grenzen überwinden: Sprachenlehren/lernen im Kontext von Flucht und Migration. Waxmann, S. 143-161.
Wildemann, A., Akbulut, M., & Bien-Miller, L. (2018). Mehrsprachige Sprachbewusstheit und deren Potenzial für den Grundschulunterricht. In G. Mehlhorn & B. Brehmer (Hrsg.) Potenziale von Herkunftssprachen: Sprachliche und außersprachliche Einflussfaktoren. Tübingen: Stauffenburg. S. 117-140.