MEZ
Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf
Projektvorstellung
Das Projekt entstand aus dem Interesse an der Frage, ob sich mehrsprachiges Aufwachsen hemmend oder förderlich auf schulischen Erfolg auswirkt. Zum einen scheinen in Mehrsprachigkeit Anlässe für Benachteiligung zu liegen; zum anderen jedoch gibt es Hinweise darauf, dass Mehrsprachigkeit eine gute Grundlage für erfolgreiches (Sprachen-)Lernen sein kann. Das MEZ-Projekt verfolgte das Ziel, grundlegendes Wissen über die Sprachentwicklung von mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern zusammenzutragen, die in Bildungsgängen der Sekundarstufe unterrichtet werden. Einbezogen wurden Lesefähigkeiten und Fähigkeiten zur Produktion schriftsprachlicher Texte, was ein Urteil über die bildungsrelevanten Kompetenzen über die üblicherweise gemessenen rezeptiven sprachlichen Fähigkeiten (Lesefähigkeit) hinaus ermöglicht. Zudem wurden neben den Fähigkeiten im Deutschen die Fähigkeiten in den Herkunftssprachen Russisch und Türkisch sowie in der ersten Fremdsprache Englisch berücksichtigt. Ferner wurden bei Schülerinnen und Schülern in entsprechenden Bildungsgängen auch Fähigkeiten in den zweiten Fremdsprachen Französisch und Russisch gemessen. Dieser Zugang erlaubt es, die Komposition der sprachlichen Kompetenzen der Jugendlichen sowie mögliche wechselseitige Einflüsse zu ermitteln.
MEZ ist eine interdisziplinär ausgerichtete Untersuchung. Mitwirkende waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Interkulturellen Bildungsforschung, der Pädagogischen Psychologie sowie der anglistischen, romanistischen und slavistischen Sprachwissenschaft.
Methodisches Vorgehen
Im Rahmen der Studie wurden zwei parallele Startkohorten der Klassenstufen 7 und 9 in insgesamt vier Erhebungen (2016 bis 2018) bis zum Ende der 9. bzw. 11. Klassenstufe begleitet. Die Stichprobe umfasste ca. 2.060 Schülerinnen und Schüler an 75 Schulen. Dazu gehörten Schülerinnen und Schüler mit russischer und türkischer Herkunftssprache sowie eine ausschließlich deutschsprachig aufgewachsene Vergleichsgruppe. Untersucht wurde die Entwicklung der Fähigkeiten im Deutschen, in den Herkunftssprachen Türkisch und Russisch sowie in den Schulfremdsprachen Englisch (als erste Fremdsprache) und ggf. Französisch oder Russisch (als zweite Fremdsprachen). Die eingesetzten Instrumente umfassen Sprachtests zu den rezeptiven (Lese- und Hörverstehen) sowie produktiven (schriftliche und mündliche) Fähigkeiten, einen Test zu nonverbalen kognitiven Fähigkeiten und Fragebögen für die Schülerschaft, Schulleitung und Eltern.
Ergänzend fanden an den Daten einer Teilstichprobe von ca. 140 deutsch-russischen, 160 deutsch-türkischen und 120 monolingual-deutschsprachigen Schülerinnen und Schüler vertiefte linguistische Analysen zum Transfer zwischen den verschiedenen Sprachen statt. Besonderes Augenmerk lag bei dieser Teilstudie auf der gesprochenen Sprache (insbes. Realisierung von Einzellauten und Sprachmelodie), die für die Wahrnehmung von abweichenden Akzenten in den Zielsprachen verantwortlich sind. Hierzu wurden neben freien schriftlichen Texten und einem auf grammatische Interferenzen zielenden Wortstellungstest umfangreiche mündliche Daten erhoben (z. B. Test zur Wiedergabe der Melodien unterschiedlicher Satzmuster).
Ergebnisse
Alle der 2.060 MEZ-Schülerinnen und Schülern lernten in der Schule Englisch, ca. 850 von ihnen zusätzlich Französisch und 70 zusätzlich Russisch als zweite Fremdsprache. Etwa 55 Prozent sind monolingual deutschsprachig aufgewachsen, rund 29 Prozent hatten einen deutsch-türkischen und etwa 17 Prozent einen deutsch-russischen Sprachhintergrund.
- Die Unterrichtssprache Deutsch stellte sich in unserer Stichprobe bei allen Schülerinnen und Schülern als dominante Sprache heraus. Ein erheblicher Anteil der lebensweltlich Mehrsprachigen erweist sich aber als fähig, schriftsprachliche Aufgaben (Lesen und Schreiben) auch in ihrer Herkunftssprache zu lösen.
- Analysen zur sprachlichen Selbsteinschätzung zeigen, dass alle Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten im Deutschen als am stärksten einschätzen, gefolgt von der Fremdsprache Englisch. Dies gilt für Teilnehmende mit und ohne Migrationshintergrund. Die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund schätzen ihre herkunftssprachlichen Fähigkeiten also geringer ein als die Fähigkeiten in Deutsch und Englisch. Über alle Sprachen hinweg halten sie ihre mündlichen Fähigkeiten für höher als ihre Fähigkeiten im Schriftlichen. Dies spricht für eine recht realistische Selbsteinschätzung, denn es deckt sich gutenteils mit den gemessenen Daten.
- Die Befürchtung, dass der Ausbau von Fähigkeiten in der Herkunftssprache die Möglichkeiten zum Erwerb der schul-/unterrichtssprachlichen Fähigkeiten beeinträchtigt, lässt sich anhand unserer Daten nicht untermauern: Es zeigt sich, dass diejenigen deutsch-türkisch- und deutsch-russischsprachigen Jugendlichen, die das Schreiben in ihrer Herkunftssprache besser beherrschen, sowohl im Deutschen als auch im Englischen durchweg bessere Leistungen in unseren Tests erzielen als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler mit schlechteren Schreibfähigkeiten in der Herkunftssprache.
- Die Konzentration auf das Leseverständnis als einziges für allgemeingültig angenommenes Maß für bildungsbezogene Sprachfähigkeit ist nach unseren Ergebnissen nicht angemessen: Die beiden Kompetenzen Lesen und Schreiben hängen zwar zusammen, aber mit Blick auf bildungsrelevante sprachliche Entwicklung steht Leseverständnis nicht pars pro toto. Unsere Daten zeigen, dass Lese- und Schreibfähigkeiten nur teilweise unmittelbar zusammenhängen und zudem nicht in gleicher Weise von sozialer Herkunft und persönlichen Merkmalen geprägt sind (Klinger et al. 2019).
- Nach dem vorliegenden sprachwissenschaftlichen Forschungsstand war davon auszugehen, dass mehrsprachige Lernende mit Russisch und Türkisch als Herkunftssprachen (nach Sprachen unterschiedliche) Vorteile bei der Aussprache von Fremdsprachen besitzen. Die Grundlage dafür sind lautliche Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen. In unseren Daten zeigt sich indessen, dass sich die Vorteile offenbar nicht ,automatisch‘ aufgrund der sprachlichen Herkunft einstellen. Auch in Bezug auf die Aussprache der Herkunftssprache weisen deutsch-russische Studienteilnehmende deutliche Abweichungen von Normerwartungen auf. Somit ist auch in diesem sprachlichen Bereich eine Unterstützung durch den Unterricht notwendig, damit die Lernenden ihr mitgebrachtes Potenzial besser entfalten können.
Implikationen für die Praxis
Der erwartete Nutzen für die Praxis liegt vor allem darin, eine bessere Informationsgrundlage darüber zu gewinnen, welche Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Mehrsprachigkeit und damit für schulisches Lernen eher förderlich oder eher hinderlich sind. Für die Gestaltung schulischen Handelns werden insbesondere Auskünfte über den wechselseitigen Einfluss von Nutzen sein, den die verschiedenen Sprachen aufeinander nehmen. Solche Einflüsse zwischen Sprachen könnten systematisch für das Lehren und Lernen genutzt werden. Die Daten der Studie geben darüber Auskunft, welche Strategien die Schülerinnen und Schüler selbst einsetzen, wenn sie Verbindungen zwischen den von ihnen gelernten Sprachen herstellen. Solche Strategien können von Nachteil sein, wenn sie die Lernenden auf falsche Fährten locken. Sie können aber auch unterstützend sein, wenn sie systematisch gefördert werden – das allerdings setzt die kundige Begleitung durch den Unterricht voraus.
Publikationen aus dem Projekt
Im Folgenden finde Sie eine Auswahl an Veröffentlichungen aus dem MEZ Projekt. Alle Veröffentlichungn und Arbeitspapiere finden Sie unter www.mez.uni-hamburg.de
Dünkel, N., Heimler, J., Brandt, H., Gogolin, I. (Redaktion) (2018). Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf. Ausgewählte Daten und Ergebnisse (PDF). Autor(inn)en der Beiträge: Bonnie, Richard J.; Brandt, Hanne; Dünkel, Nora; Feindt, Kathrin; Gabriel, Christoph; Gogolin, Ingrid; Klinger, Thorsten; Krause, Marion; Lagemann, Marina; Lorenz, Eliane; Rahbari, Sharareh; Schnoor, Birger; Siemund, Peter; Usanova, Irina. Hg. v. Ingrid Gogolin, Christoph Gabriel, Michel Knigge, Marion Krause und Peter Siemund. Universität Hamburg. Hamburg.
Rahbari, S., Gabriel, C., Krause, M., Siemund, P., Bonnie, R. Jr., Dittmers (geb. Pron), T., Feindt, K., Lorenz, E. & Topal, S. (2018). Die linguistische Vertiefungsstudie des Projekts Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf (MEZ). Hamburg: Universität Hamburg, 210 S. - (MEZ Arbeitspapiere; 2).
Gogolin, I., Klinger, T., Lagemann, M. & Schnoor, B. (2017). Indikation, Konzeption und Untersuchungsdesign des Projekts Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf (MEZ). Hamburg: Universität Hamburg, 26 S. - (MEZ Arbeitspapiere; 1) http://www.pedocs.de/frontdoor.php?source_opus=14825
Brandt, H., Lagemann, M. & Rahbari, S. (2017). Multilingual Development. A Longitudinal Perspective – Mehrsprachigkeitsentwicklung im Zeitverlauf (MEZ). In European Journal of Applied Linguistics, 5 (2), S. 347-357. doi: 10.1515/eujal-2017-0024
Lorenz, E., Bonnie, R. Jr., Feindt, K., Rahbari, S. & Siemund, P. (2018). Cross-linguistic influence in unbalanced bilingual heritage speakers on subsequent language acquisition: Evidence from pronominal object placement in ditransitive clauses. In International Journal of Bilingualism. doi:10.1177/1367006918791296
Dittmers, T., Gabriel, C., Krause, M. & Topal, S. (2018). The production of voiceless stops in multilingual learners of English, French, and Russian: Positive transfer from the heritage languages?. In M. Benz, C. Mooshammer, S. Fuchs, S. Jannedy, O. Rasskazova & M. Zygis (Hrsg.) Proceedings of the 13th Conference on Phonetics and Phonology in the German-Speaking Countries (P&P 13), Berlin 28-29 Sep 2017. S. 41-44. https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/19531
Gabriel, C. & Thiele, S. (2017). Learning and teaching of foreign language pronunciation in multilingual settings: A questionnaire study with teachers of English, French, Italian and Spanish. In C. Schlaak & S. Thiele (Hrsg.) Migration, Mehrsprachigkeit und Inklusion. Strategien für den schulischen Unterricht und die Hochschullehre. Stuttgart: ibidem, S. 79-104.
Siemund, P. & Lechner, S. (2015). Transfer effects in the acquisition of English as an additional language by bilingual children in Germany”. In H. Peukert (Hrsg.) Transfer Effects in Multilingual Language Development. Hamburg Studies on Linguistic Diversity, Bd. 4. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, S. 147-160.
Klinger, T., Usanova, I. & Gogolin, I. (2019) Entwicklung rezeptiver und produktiver schriftsprachlicher Fähigkeiten im Deutschen. In Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 22, 1, S. 75-103. https://doi.org/10.1007/s11618-018-00862-0
Usanova, I. (2019). Biscriptuality. Writing skills among German-Russian adolescents. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins Publishing Company.
Brehmer, B. & Usanova, I. (2017). Biscriptality and heritage language maintenance: Russian in Germany. In H. Peukert & I. Gogolin (Hrsg.) Transfer Effects in Multilingual Language Development. Hamburg Studies on Linguistic Diversity, Bd.6. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, S. 99-121.
Usanova, I. (2016). Transfer in bilingual and (bi)scriptual writing: can German-Russian bilinguals profit from their heritage language? The interaction of different languages and different scripts in German-Russian bilinguals. In P. Rosenberg & C. Schroede (Hrsg.) Mehrsprachigkeit als Ressource in der Schriftlichkeit. Berlin: De Gruyter Mouton, S. 159-177. https://doi.org/10.1515/9783110401578-010
Lagemann, M., Brandt, H. & Gogolin, I. (2017). Renditen von Investitionen in fremdsprachliche Fähigkeiten: Eine Untersuchung von Schülerwahrnehmungen und deren Zusammenhang mit ihren Englischkenntnissen. In N. McElvany & A. Sander (Hrsg.) Bildung und Integration - Sprachliche Kompetenzen, soziale Beziehungen und schulbezogene Zufriedenheit. Landau: Empirische Pädagogik, S. 460-494.
Brandt, H. & Gogolin, I. (2015) Zum Erwerb der CLIL-Fremdsprache durch Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. In B. Rüschoff, J. Sudhoff & D. Wolff (Hrsg.) CLIL Revisitied: Eine kritische Analyse zum gegenwärtigen Stand des bilingualen Sachfachunterrichts. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 127-150.
Heimler, J. (2017). Migration und Geschlecht: Geschlechtsspezifische Unterschiede sprachlicher Fähigkeiten von Jugendlichen verschiedener Herkunftssprachen. In K. Göbel & Z. M. Lewandowska (Hrsg.) Interdisziplinäre Forschungsperspektiven auf Zuwanderung und Akkulturation im Kontext Schule. Essen, S. 29-31.