Russische & polnische Herkunftssprache als Ressource im Schulunterricht?
Eine Bestandsaufnahme zur Rolle des familiären und schulischen Kontexts für die Nutzung von Herkunftssprachen durch SchülerInnen mit Migrationshintergrund
Projektvorstellung
Das Projekt untersucht die Frage, inwiefern Jugendliche aus russisch- und polnischsprachigen Familien ihre Mehrsprachigkeit als Ressource betrachten, die sie sowohl in ihrem privaten Umfeld als auch im schulischen Kontext nutzen können.
Wichtige Erkenntnisinteressen des Projekts betrafen:
- den Sprachstand in der Herkunftssprache Russisch / Polnisch und im Deutschen
- die Rolle des familiären Inputs in beiden Sprachen für die Entwicklung des Sprachstands
- die Sprachpraxis und Spracheinstellungen in den mehrsprachigen Familien sowie
- die Wahrnehmung der Potenziale der Mehrsprachigkeit innerhalb der Familie und durch Lehrerinnen und Lehrer der Jugendlichen
Methodisches Vorgehen
Neben den Jugendlichen (insgesamt 45 Schülerinnen und Schüler aus den Städten Berlin, Hamburg und Leipzig) wurden ihre Eltern und das schulische Umfeld (v. a. Lehrkräfte aus dem Fremd- und Herkunftssprachenunterricht Polnisch/Russisch) in die Untersuchung einbezogen. Von den Jugendlichen und jeweils einem Elternteil (i. d. R. die Mutter) wurden in zwei Erhebungswellen die Fertigkeiten Hör- und Leseverstehen, Schreiben, Sprechen und Sprachmittlung sowie Orthographie, Aussprache und Satzbau sowohl in der jeweiligen Herkunftssprache (Russisch /Polnisch) als auch im Deutschen erfasst.
Neben bewährten Instrumenten zur Sprachstandserhebung, die zum Teil für die Herkunftssprachen (Russisch/ Polnisch) adaptiert werden mussten, wurden auch neue Instrumente (z. B. für die Untersuchung der mündlichen Sprachmittlung zwischen dem Deutschen und der Herkunftssprache) entwickelt.
Die Jugendlichen und ihre Eltern wurden ebenfalls im Abstand von einem Jahr zu ihren Sprachlernbiographien, der Verwendung der Herkunftssprache im Alltag, ihren Einstellungen in Bezug auf die Herkunftssprache sowie zu Sprachgebrauch und Spracherziehung in der Familie befragt. In den Interviews mit den Lehrkräften ging es u. a. um das Aufgreifen des sprachlichen Wissens der SchülerInnen im schulischen Kontext, um Sprachvergleiche und den Umgang mit heterogenen sprachlichen Vorkenntnissen im Unterricht.
Ergebnisse
Anhand der Sprachstandserhebungen konnte nachgewiesen werden, dass die Jugendlichen relativ ausgeglichene Kompetenzen im Deutschen aufweisen. In der Herkunftssprache zeigte sich dagegen eine große Varianzbreite: Während sich die Ergebnisse bei den rezeptiven Tests (Hör- und Leseverstehen) denen im Deutschen weitgehend annäherten, waren die Ergebnisse im schriftsprachlichen Bereich sehr verschieden ausgeprägt. Die Stärken der Jugendlichen in der Herkunftssprache lagen im Bereich der gesprochenen Sprache einschl. des Hörverstehens; viele verfügten darüber hinaus über eine akzentfreie Aussprache und teilweise auch über eine zielsprachennahe Intonation.
Im schriftsprachlichen Bereich hingegen traten die Unterschiede zwischen den Kompetenzen im Polnischen und Russischen einerseits und im Deutschen andererseits besonders deutlich zutage. So wurden in der Herkunftssprache nicht immer zielsprachliche bzw. pragmatisch angemessene Formen verwendet, die Texte waren kürzer und weniger elaboriert und es zeigten sich Defizite auf der orthographischen Ebene.
Die lexikalischen Kompetenzen in der Herkunftssprache waren bei den Jugendlichen am stärksten ausgeprägt, die zu Hause Polnisch bzw. Russisch als Familiensprache nutzten und zudem an Unterricht in der Herkunftssprache teilnahmen.
Jugendliche, die Unterricht in der Herkunftssprache besuchten, profitierten insbesondere im Bereich der literalen Fähigkeiten. Gleichzeitig wurde in den Interviews deutlich, wie viel elterliche Überzeugungsarbeit sowie Ausdauer und Überwindung von Schülerseite der regelmäßige Besuch des zusätzlichen und nicht abschlussrelevanten Herkunftssprachenunterrichts kostet.
Implikationen für die Praxis
Ungenutztes Potenzial wurde v. a. im schulischen Kontext festgestellt, da die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler hier – von wenigen positiven Ausnahmen abgesehen – kaum eine Rolle spielte. Im Polnisch- und Russischunterricht wurden die Jugendlichen zwar auf Interferenzen aus dem Deutschen aufmerksam gemacht; aufgrund des Bemühens der Lehrkräfte um Einsprachigkeit wurde die Ressource des Sprachenvergleichs im herkunftssprachlichen Unterricht jedoch weitgehend verschenkt.
Die Ergebnisse der Sprachstanderhebungen in der Herkunftssprache können als Ausgangspunkt für sprachliche Aspekte dienen, die im herkunftssprachlichen Unterricht verstärkt geübt werden sollten und Eingang in eine noch zu entwickelnde Herkunftssprachendidaktik finden müssten.
Weiterhin konnten innovative Instrumente entwickelt werden, die die Vorzüge der Mehrsprachigkeit der untersuchten Probandinnen und Probanden besonders anschaulich dokumentieren (z. B in der Sprachmittlung). In den durchgeführten Interviews bestätigten die Eltern, dass ihre Kinder im Alltag oft sprachmittlerisch aktiv sind; dabei erleben die Jugendlichen Selbstwirksamkeit und eine Aufwertung ihrer mehrsprachigen Kompetenzen.