Sprachkompetenzen und Sprachbewusstheit
Metasprachliche Interaktionen in mehrsprachigen Lernsettings als Prädiktor für Sprachbewusstheit und deren Bedeutung für sprachliches Lernen im Deutsch-, Fremdsprachen- und Herkunftssprachenunterricht
Projektvorstellung
Die Entwicklung und Förderung von Sprachbewusstheit als Fähigkeit, über Sprache und ihren Gebrauch nachzudenken, sie zielgerichtet und bewusst einzusetzen, um eigene Sprachhandlungsabsichten zu erreichen, gehört zu den Hauptaufgaben des schulischen Sprachunterrichts. Zum Entstehen der Fähigkeit und Faktoren, die sie begünstigen, ist jedoch wenig bekannt. Einerseits wird angenommen, dass Sprachbewusstheit mit der primärsprachlichen Entwicklung und allgemeiner kognitiver Entwicklung zusammenhängt, andererseits, dass Mehrsprachigkeit bei der Entwicklung von Sprachbewusstheit eine Rolle spielt. Bislang fehlen jedoch Studien, die diese Annahmen auf einer breiten empirischen Basis überprüfen: Das Projekt „Sprachkompetenzen und Sprachbewusstheit“ widmet sich der Untersuchung von Sprachbewusstheit ein- und mehrsprachiger Kinder am Ende der Grundschulzeit. Die Ziele der Studie sind zum einen, ein Bild über die Bandbreite der bewussten Verarbeitung sprachlicher Strukturen bei Schülerinnen und Schülern zu erhalten und zum anderen die Zusammenhänge zwischen ein und mehrsprachigen Sprachkompetenzen und Sprachbewusstheit zu eruieren.
Die Forschungsfragen des Projektes lauten:
- Wie lässt sich Sprachbewusstheit anhand metasprachlicher Äußerungen erfassen und abbilden?
- Besteht ein Zusammenhang zwischen Kompetenzen in der Erst- und Zweitsprache und Sprachbewusstheit?
- Wie nutzen mehrsprachige Schülerinnen und Schüler ihre herkunftssprachlichen Kompetenzen beim Bearbeiten metasprachlicher Aufgaben?
Methodisches Vorgehen
Die Stichprobe beinhaltet 400 ein- und mehrsprachig aufwachsende Grundschülerinnen und Grundschüler. Hintergrunddaten zu Alter, Geschlecht, Geburtsort des Kindes und der Eltern, Sprachnutzung innerhalb der Familie bzw. Peergroup wurden in Einzelgesprächen mit den Kindern fragebogengestützt erfragt. Anschließend erfolgten die Erhebung kognitiver Grundfähigkeiten und sprachlicher Kompetenzen im Deutschen und den Sprachen Türkisch und Russisch anhand einer adaptierten Version des Sprachdiagnoseverfahrens Tulpenbeet. Die Erhebung von metasprachlichen Äußerungen als Indikator für Sprachbewusstheit erfolgte durch das im Rahmen der Studie eigens entwickelten Verfahrens (M-Spra). Es beinhaltet Reflexionsimpulse, die die Probandinnen und Probanden auffordern, bei der Lösung von Aufgaben ihre sprachbezogenen Hypothesen und Beobachtungen, aber auch ihr vorhandenes Sprachwissen zu verbalisieren. Die metasprachlichen Interaktionen werden videographiert und ausgewertet. Im Fokus standen dabei die sprachliche Ebenen, auf die die Probandinnen und Probanden Bezug nehmen, und die Tiefe der Reflexion.
Ergebnisse
In den Interaktionen der Grundschülerinnen und Grundschüler beim Bearbeiten der Aufgaben wurde ein breites Spektrum metasprachlicher Äußerungen elizitiert, die als Indikator für Sprachbewusstheit gesehen werden. Die metasprachlichen Äußerungen lassen sich dabei im Hinblick auf die Tiefe der Reflexion und ihrer Elaboriertheit in drei Gruppen unterteilen, die in einer hierarchischen Beziehung zueinander stehen. Die hierarchieniedrigste Form bilden die Feststellungen, die nächsthöhere die Erklärungen und die ranghöchste die Analysen. Die Gesamtzahl der Feststellungen, Erklärungen und Analysen pro Kind wird als globaler Wert für Sprachbewusstheit verstanden, der unter Bezugnahme auf die Einflussvariablen Grundintelligenz und Sprachkompetenz untersucht wird. Die Berechnungen der Korrelationen zwischen diesen Variablen haben signifikante Zusammenhänge zwischen Sprachkompetenzen im Deutschen, der Grundintelligenz und Sprachbewusstheit ergeben. Dies deutet darauf hin, dass Sprachbewusstheit mit sprachlichen und allgemein kognitiven Fähigkeiten zusammenhängt.
Zwischen den Sprachkompetenzen in den Erstsprachen Russisch und Türkisch und Sprachbewusstheit konnte kein signifikanter Zusammenhang gefunden werden. Dies deutet darauf hin, dass der Umgebungssprache Deutsch für die Herausbildung von Sprachbewusstheit am Ende der Grundschulzeit ein größerer Stellenwert zukommt. Analysen der globalen Sprachbewusstheitswerte der mehrsprachigen und primärsprachlich deutschen Kinder zeigen, dass mehrsprachige Kinder eine höhere Gesamtzahl metasprachlicher Äußerungen produzieren im Vergleich zu einsprachig deutschen Kindern mit vergleichbaren Werten für die Sprachkompetenz im Deutschen, die Grundintelligenz und das Alter. Ebenfalls realisieren sie häufiger niveauhöhere Sprachreflexionen. Vermutlich bilden mehrsprachige Schülerinnen und Schüler durch das Aufwachsen mit zwei Sprachsystemen sprachanalytische Fähigkeiten aus, die bei gleichaltrigen einsprachigen Schülerinnen und Schülern durch das Fehlen einer zweiten Sprache als Ressource für den Sprachvergleich noch nicht in dem Maße entwickelt sind.
Implikationen für die Praxis
Die Ergebnisse der Studie haben gezeigt, dass Kinder am Ende der Grundschulzeit über ein breites Spektrum metasprachlicher Fähigkeiten verfügen, die (nicht nur) im Sprachunterricht vielfältig nutzbar sind. Mehrsprachigkeit hat sich als eine nutzbare und tatsächlich genutzte Ressource für Sprachreflexion und Sprachvergleich offenbart. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass an der Sprachbewusstheit im Grundschulalter die Umgebungssprache Deutsch im stärkeren Maße beteiligt ist, als die jeweiligen Herkunftssprachen.
Die in der vorliegenden Studie zusätzlich beobachteten Unterschiede lassen vermuten, dass der schulische Unterricht eine einflussreiche Rolle spielen könnte. Vor diesem Hintergrund kommt dem Sprachunterricht der Grundschule eine zweifache Funktion zu: zum einen die, der Entwicklung von Sprachbewusstheit und zum anderen die der Nutzung der von mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern mitgebrachten Sprachkompetenzen als Ressource für die Sprachreflexion und den Sprachvergleich für alle Schülerinnen und Schüler.
Publikationen aus dem Projekt
Wildemann, A., Bien-Miller, L. & Akbulut, M. (2020). Mehrsprachigkeit und Sprachbewusstheit – empirische Befunde und Unterrichtskonzepte. In: Gogolin, I., Hansen, A., McMonagle, S. & Rauch. D. (Hrsg.): Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung, Springer VS, 119-123.
Wildemann, A., Krzyzek, S. Andronie, M. & Bien-Miller, L.(2020). Explizite Sprachenthematisierung im Deutschunterricht der Primarstufe – zum sprachreflexiven mehrsprachigen Handeln von Lehrkräften mit und ohne Fortbildung: In: Peyer, A. & Uhl, J. (Hrsg.): Sprachreflexion – Handlungsfelder und Erwerbskontexte. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 109-136.
Akbulut, M., Bien-Miller, L., & Wildemann, A. (2017). Mündliche Sprachkompetenzen in Schulstufe 3 - eine vergleichende Studie zu diskursiven und morphosyntaktischen Fähigkeiten von Lernenden des Deutschen als Erst- und Zweitsprache. In Zielsprache Deutsch, 44(2). Tübingen: Stauffenburg. S. 39-59.
Akbulut, M., Bien-Miller, L., & Wildemann, A. (2017). Mehrsprachigkeit als Ressource für Sprachbewusstheit. In Zeitschrift für Grundschulforschung: Bildung im Elementar- und Primarbereich, 10(2), S. 61-74.
Bien-Miller, L., Akbulut, M., Wildemann, A. & Reich, Hans H. (2017). Zusammenhänge zwischen mehrsprachigen Sprachkompetenzen und Sprachbewusstheit bei Grundschulkindern. In Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 20(2), S. 193-211.
Wildemann, A. & Bien-Miller, L. (2017). Wo sind die Wörter hin? Sprachvergleiche in mehrsprachigen Lerngruppen. In Grundschulunterricht Deutsch, 01/17, S. 8-12.
Wildemann, A., Akbulut, M., & Bien-Miller, L. (2016). Mehrsprachige Sprachbewusstheit zum Ende der Grundschulzeit - Vorstellung und Diskussion eines Elizitationsverfahrens. In Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht, 21(2), S. 1-15.
Akbulut, M., Bien, L., Reich, Hans H., & Wildemann, A. (2015). Metasprachliche Interaktionen in mehrsprachigen Lernsettings - ein Projekt zur Sprachbewusstheit im Grundschulalter. In ide: Sprachliche Bildung im Kontext von Mehrsprachigkeit. Die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der SchülerInnen im Bildungskontext besser nutzen 4, S. 119-128.