Delphi-Studie
Forschungsbedarf zum Thema „Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung“. Ein kurzer Einblick in Ergebnisse einer Delphi-Studie.
Die Koordinierungsstelle für Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung (KoMBi) hat von 2015 bis 2017 eine Delphi-Studie durchgeführt. Ziel war es, den bestehenden Forschungsbedarf aus dem Bereich Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung herauszufinden und zu priorisieren. Die wesentlichen Ergebnisse werden nachfolgend dargestellt.
Die zentralen Fragen der Delphi-Studie waren folgende:
- Welche Forschungsthemen werden von ExpertInnen für den Bereich Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung als besonders drängend erachtet und sollten mit Vorrang erforscht werden?
- Welche Themen werden von diesen ExpertInnen als bereits ausreichend erforscht angesehen?
1. Durchführung
Die Delphi-Studie wurde in zwei Runden durchgeführt. In Runde 1 wurden Forschungsfragen zu zwölf Unterthemen aus dem Bereich Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung in einem offenen Format erhoben. Vermittels einer computergestützten qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2016) wurden die Nennungen systematisiert, zusammengefasst und zu einem Fragebogen mit 199 geschlossenen Items für die zweite Runde aufbereitet. Davon sollte für 143 Themen die Dringlichkeit der Erforschung anhand vierstufiger Likert-Skalen beurteilt werden (auf die Frage „Wie wichtig ist die Erforschung des folgenden Themas..?“ konnte mit 1. sehr wichtig, 2. eher wichtig, 3. weniger wichtig und 4. nicht wichtig geantwortet werden). Auch gab es die Möglichkeiten, „ist hinreichend erforscht“ und „kann ich nicht beurteilen“ anzugeben.
2. ExpertInnen der Runde 2
Die eingeladenen ExpertInnen gehören zu einer Personengruppe, die über vertiefte Kenntnisse über Forschung zum Themenfeld Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung verfügen. Die Rekrutierung erfolgte auf Basis von Recherchen an Universitäten, in Tagungsprogrammen und einschlägigen Journals. An Runde 1 hatten 164 Personen teilgenommen. An Runde 2 beteiligten sich 103 Personen. 42% der TeilnehmerInnen waren älter als 50 Jahre, 24% zwischen 40 und 50, 28% zwischen 30 und 40 Jahre alt. Nur 6% waren jünger als 30 Jahre. Die Mehrheit der TeilnehmerInnen (40%) beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit dem Themenfeld Mehrsprachigkeit und Bildung (17% seit mehr als 11 Jahren; 33% seit mehr als 6 Jahren; 11% seit bis zu 5 Jahren). ¾ der ExpertInnen sind in der Wissenschaft tätig. Vertreten sind Erziehungswissenschaft/ Bildungsforschung, Linguistik, Psychologie und Soziologie. Die weiteren Teilnehmenden sind in der Bildungspraxis, -verwaltung oder in Funktionen zwischen Wissenschaft und Praxis tätig.
3. Ausgewählte Ergebnisse
Aus den 143 Items der Likert-Skala wurde anhand der Mittelwerte eine Rangfolge erstellt:
Tabelle 1: Rangfolge über alle Themen
Frage: Wie wichtig ist die Erforschung des folgenden Themas?
Platz Rangfolge |
N* |
Mittelwert |
ADM** |
|
1 |
Merkmale erfolgreicher Unterrichtskonzepte zur Sprachförderung für neu zugewanderte SchülerInnen |
85 |
1,26 |
0,40 |
2 |
Wirksamkeit didaktischer Konzepte zur Förderung von Mehrsprachigkeit im Regelunterricht |
86 |
1,28 |
0,42 |
3 |
benötigte Kompetenzen zur Förderung von Mehrsprachigkeit von pädagogischem Personal |
75 |
1,33 |
0,49 |
4 |
Gelingensbedingungen des Transfers von Forschungsergebnissen in die Lehreraus- und -fortbildung |
71 |
1,34 |
0,45 |
5 |
Effekte der Förderung von Mehrsprachigkeit auf bildungssprachliche Kompetenz |
89 |
1,35 |
0,48 |
6 |
Effekte der Nutzung von Mehrsprachigkeit im Fachunterricht auf das Verständnis der Fachinhalte |
80 |
1,35 |
0,49 |
7 |
Wirksame Gestaltung des herkunftssprachlichen Unterrichts vor dem Hintergrund der sprachlichen Heterogenität der Schülerschaft |
76 |
1,39 |
0,51 |
8 |
Geeignete Konzepte zur Sensibilisierung von Lehrkräften "sprachferner" Fächer für sprachliche Bildung |
74 |
1,41 |
0,49 |
9 |
Effekte von bilingualem Sachfachunterricht auf das Verständnis der Fachinhalte |
78 |
1,42 |
0,52 |
10 |
Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit in der fachdidaktischen Lehramtsausbildung |
75 |
1,43 |
0,55 |
* Die Gesamtzahlen sind unterschiedlich, da die Angaben „kann ich nicht beurteilen“ und „ist hinreichend erforscht“ nicht in die Ermittlung der Mittelwerte eingeflossen sind.
** Der Average Deviation Index wird als Übereinstimmungsmaß zwischen den TeilnehmerInnen verwendet. Er basiert auf den Abweichungen der einzelnen BeurteilerInnen vom Gruppenmittelwert. Nach Burke und Dunlap (2002) gibt es einen Cut-off Wert von A/6. Bei Werten kleiner als A/6 kann von einer bedeutsamen Übereinstimmung zwischen den TeilnehmerInnen gesprochen werden. Für die Delphi-Studie gilt: Bei Werten kleiner als 0,6666 (4/6) kann von einer zufriedenstellenden Übereinstimmung gesprochen werden.
Die Befragten beurteilten die Erforschung der „Merkmale erfolgreicher Unterrichtskonzepte zur Sprachförderung für neu zugewanderte SchülerInnen“ als am drängendsten. Die hohe Zustimmung zu diesem Thema ist vermutlich auch eine Spontanreaktion auf die Neuzuwanderung von Flüchtlingen und Schutzsuchenden, die sich während der Befragung ereignete. Ein weiteres als sehr dringend erachtetes Forschungsthema ist die Überprüfung der Wirksamkeit didaktischer Konzepte zur Förderung von Mehrsprachigkeit im Regelunterricht. Die Wirksamkeit von Unterrichtskonzepten nimmt generell für die Antwortenden einen zentralen Stellenwert ein. Diesbezügliche Forschungsthemen erhalten stets hohe Mittelwerte (z.B. „Erforschung der Wirksamkeit didaktischer Konzepte zur Nutzung von Mehrsprachigkeit im Fachunterricht, Mittelwert: 1,48; Erforschung der Merkmale guten herkunftssprachlichen Unterrichts, Mittelwert: 1,55).
Ein weiteres bedeutendes Thema ist die Erforschung der Kompetenzen zur Förderung von Mehrsprachigkeit des pädagogischen Personals. Dabei sollten sich Forschungsbemühungen insbesondere auf die Qualifikation und Sensibilisierung von Lehrkräften „sprachferner“ Fächer sowie auf die Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit in der fachdidaktischen Lehramtsausbildung richten. Der Erforschung von Gelingensbedingungen des Transfers von Forschungsergebnissen in die Lehreraus und -fortbildung wurde ebenfalls ein sehr hohes Gewicht beigemessen (Platz 4).
Weitere Themenkomplexe, denen aus Sicht der Befragten hohe Dringlichkeit zukommen, betreffen die Effekte einer Förderung von Mehrsprachigkeit auf bildungssprachliche Kompetenz sowie auf die Aneignung von Fachinhalten.
Tabelle 2: Auswirkungen einer Förderung von Mehrsprachigkeit
Frage: Wie wichtig ist die Erforschung der Effekte eine Förderung von Mehrsprachigkeit auf…
Platz Rangfolge |
N |
Mittelwert |
ADM |
|
1 |
bildungssprachliche Kompetenz |
89 |
1,35 |
0,48 |
2 |
Kompetenz in der Unterrichtssprache Deutsch |
89 |
1,44 |
0,52 |
3 |
gesellschaftliche Integration |
84 |
1,51 |
0,56 |
4 |
Schulerfolg |
87 |
1,62 |
0,61 |
5 |
das bildungsbezogene Selbstbild von SchülerInnen |
83 |
1,63 |
0,66 |
6 |
Motivation |
86 |
1,69 |
0,69 |
7 |
das psychische Wohlbefinden von SchülerInnen |
82 |
1,74 |
0,74 |
8 |
die Aneignung förderlicher Lernstrategien |
82 |
1,78 |
0,74 |
9 |
Kompetenz in der Herkunftssprache |
88 |
1,81 |
0,62 |
10 |
Kompetenz in Fremdsprachen |
84 |
2,29 |
0,60 |
Im Gesamturteil aller ExpertInnen nimmt die Erforschung der Auswirkungen von Mehrsprachigkeit auf bildungssprachliche Kompetenz den ersten Platz ein, gefolgt von den Auswirkungen auf das Deutsche. Die Erforschung von Auswirkungen einer Förderung von Mehrsprachigkeit auf Kompetenzen in der Herkunftssprache wird als weniger wichtiges Thema eingeschätzt. Unerwartet ist, dass die Erforschung der Auswirkungen auf Fremdsprachen als wenig dringlich angesehen wird. Auch der Befassung mit Wirkungen von Mehrsprachigkeit auf nicht-sprachliche und nicht-leistungsbezogene Dimensionen wie „gesellschaftliche Integration“ oder „Motivation“ und „psychisches Wohlbefinden“ messen die Befragten hohe Bedeutung bei. Dieser Bereich wird als wichtiger eingeschätzt als die Auswirkungen auf Sprachkompetenzen.
Bei allen Fragen zur Dringlichkeit der Erforschung von Effekten mehrsprachiger Ansätze ergab sich, dass die Auswirkungen auf das Verständnis der Fachinhalte als wichtiger angesehen wurden als die Auswirkungen auf sprachliche Kompetenzen. Zwei Beispiele dafür:
Tabelle 3: Rangfolge Mehrsprachigkeit und Fachunterricht
Frage: Wie wichtig ist die Erforschung der Effekte einer Nutzung von Mehrsprachigkeit im Fachunterricht auf…
Platz Rangfolge |
N |
Mittelwert |
ADM |
|
1 |
das Verständnis der Fachinhalte |
80 |
1,35 |
0,49 |
2 |
Kompetenzen im Deutschen |
80 |
1,59 |
0,60 |
3 |
Kompetenzen in der Herkunftssprache |
80 |
1,78 |
0,66 |
Die analog gestellte Frage mit Bezug auf bilinguale Modelle ergab:
Tabelle 4: Rangfolge bilingualer Sachfachunterricht
Frage: Wie wichtig ist die Erforschung der Effekte von bilingualem Sachfachunterricht auf…
Platz Rangfolge |
N |
Mittelwert |
ADM |
|
1 |
das Verständnis der Fachinhalte |
78 |
1,42 |
0,52 |
2 |
Kompetenzen in der jeweiligen Partnersprache |
76 |
1,76 |
0,50 |
3 |
Kompetenzen im Deutschen |
77 |
1,88 |
0,53 |
Auch mit Bezug auf Forschung zum herkunftssprachlichen Unterricht wird besonderer Wert auf das Problem des Beitrags zum Verstehen fachlicher Inhalte gelegt. Hohes Gewicht wurde auch hier dem Aspekt des psychischen Wohlbefindens beigemessen.
Tabelle 5: Herkunftssprachlicher Unterricht
Frage: Wie wichtig ist die Erforschung der Effekte herkunftssprachlichen Unterrichts auf…
Platz Rangfolge |
N |
Mittelwert |
ADM |
|
1 |
das Verstehen fachlicher Inhalte |
78 |
1,47 |
0,52 |
2 |
Motivation/ psychische Befindlichkeit von Lernenden |
78 |
1,49 |
0,56 |
3 |
Kompetenzentwicklung in der Herkunftssprache |
78 |
1,53 |
0,56 |
4 |
Kompetenzentwicklung im Deutschen |
78 |
1,54 |
0,59 |
5 |
Kompetenzentwicklung in Fremdsprachen |
77 |
2,17 |
0,52 |
4. Was ist hinreichend erforscht?
Generell ist festzuhalten, dass nur wenige Themen von den Befragten als hinreichend erforscht angesehen wurden. Die größte Übereinstimmung bei Angaben zu „hinreichend erforscht“ fand sich beim Komplex der Einflussgrößen auf sprachliche Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen. 28% der Befragten beurteilten die Erforschung des Einflusses von sozio-ökonomischem Status auf sprachliche Kompetenzen als hinreichend; 25% fällten dieses Urteil mit Bezug auf den Einfluss des Geschlechts; 20% befanden die Erforschung des Einflusses des Alters als gesättigt und 19% sehen den Einfluss der Bildungserfahrungen in der Familie als hinreichend erforscht an. Immerhin 13% sahen den Einfluss der sprachlichen Fähigkeiten der Eltern auf die Kompetenzen der Kinder als hinreichend erforscht an, 13% den Einfluss der kognitiven Fähigkeiten, 10% den Einfluss des sprachlichen Vorwissens und ebenfalls 10% den Zusammenhang zwischen Mehrsprachigkeit und dem Lernen weiterer Sprachen. Allerdings können Werte um die 10% nicht als Indiz für Übereinstimmung aufgefasst werden – die Angaben dienen lediglich der Illustration einer Tendenz.
Literaturverzeichnis
Burke, Michael J. und Dunlap, William P. (2002): Estimating Interrater Agreement With the Average Deviation Index: A User's Guide. Organizational Research Methods 5/2: 159-172.
Kunina-Habenicht, Olga et al. (2012): Welche bildungswissenschaftlichen Inhalte sind wichtig in der Lehrerbildung. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15: 649-682.
Häder, Michael (2002): Delphi-Befragungen. Ein Arbeitsbuch. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Kuckartz, Udo (2016): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3. Aufl. München und Weinheim: Beltz Juventa.
Rösselet, Stephan (2012): ExpertInnen machen Schule. Ergebnisse einer Delphibefragung zur Förderung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund. Wiesbaden: Springer.