Welche Rolle spielt eigentlich Kultur bei der Erziehung in Migrantenfamilien?
Prof. Dr. Bernhard Nauck
Elterliche Erziehung ist grundlegend für das Hineinwachsen eines Kindes in die Gesellschaft. In ihr wird vermittelt, was die Eltern für das kindliche Verhalten als “gut und richtig” erachten. Dabei spielen meistens auch Vorstellungen über die Zukunft des Kindes eine große Rolle, d.h. “was aus dem Kind einmal werden soll”. Sie sind gleichzeitig geleitet von Vorstellungen darüber, wie ein Kind im jeweiligen Alter “ist” und wie man sich dem Kind gegenüber als Mutter oder Vater selber “richtig” verhält. Elterliche Erziehung geschieht nicht als bewusste “Veranstaltung”, wie etwa der Schulbesuch, sondern sie ist selbstverständlicher und unabtrennbarer Bestandteil der Interaktion zwischen Eltern und ihrem Kind. Sie ist damit immer eingebettet in familiäres Alltagshandeln. Um dies zu verdeutlichen, wird statt “elterlicher Erziehung” zunehmend der aus der angloamerikanischen Fachterminologie stammende und weiter gefasste Begriff “Parenting” verwendet, der die Gesamtheit der mit der Elternrolle verknüpften Erwartungen, Verpflichtungen und Verhaltensweisen umfasst.
Drei Faktorenbündel sind für das Verständnis elterlicher Erziehung wichtig: die Situation, in der sich Eltern und Kinder befinden, die Ressourcen, die der Familie zur Verfügung stehen, und die erlernte Kultur der Eltern, über die sie sich mit Erziehungszielen identifizieren und sich ihr Repertoire an elterlichen Verhaltensweisen aneignen.
Wichtige situative Unterschiede ergeben sich z.B. durch die Anzahl der Geschwister, ob ein Lebenspartner sich an der Erziehung beteiligt und ob Großeltern für die Betreuung der Kinder verfügbar sind. Ressourcenunterschiede betreffen insbesondere den für die Kinder einsetzbaren Teil des Haushaltseinkommens, die für die Kinderbetreuung einsetzbare Zeit, sowie Kompetenzunterschiede in der Kindererziehung. Alleinerziehende haben durchschnittlich weniger Geld für ihre Kinder zur Verfügung als Zwei-Eltern-Familien, häufig weniger Zeit zur Beaufsichtigung ihrer Kinder, und die für das einzelne Kind verfügbare Zeit verringert sich mit der Anzahl der Kinder. Gegenwärtig sind Großeltern eine gern in Anspruch genommene Ressource bei der Betreuung von Kindern. Dies ist nicht immer und überall so: Angenommen, in einer Gesellschaft erleben 5 Kinder das Erwachsenenalter, die dann wieder jeweils 5 Kinder haben, so dass 25 Enkel auf ein Großelternteil entfallen. Allein an diesen situativen Bedingungen ist abzusehen, dass das Entstehen einer intensiven Großeltern-Enkel-Beziehung unwahrscheinlich und das Verhältnis eher distanziert-unpersönlich sein wird. Hinzu kommt, dass in den letzten 150 Jahren die Lebenserwartung enorm gestiegen ist, was Konsequenzen für die gemeinsame Lebenszeit von Großeltern, Eltern und Kindern hat. So hat über die Hälfte der im Jahre 1875 geborenen Großväter die Geburt eines Enkels nicht erlebt, wohingegen schon bei den 1940 geborenen die durchschnittliche gemeinsame Lebenszeit 25 Jahre betragen hat, bei den Großmüttern ist im selben Zeitraum die gemeinsame Lebenszeit von 15 auf 30 Jahre gestiegen.
Migrantenfamilien sind in besonderer Weise von situativen Besonderheiten und häufig von Ressourcenknappheit betroffen. Die situative Besonderheit ergibt sich zunächst aus der Migration selber, die häufig von Familienfragmentierung begleitet ist, d.h. dass nicht alle Familien- und Verwandtschaftsmitglieder gleichzeitig den Aufenthaltsort wechseln. Dadurch entstehen Belastungen in der Beziehung zwischen den Eltern, den Beziehungen zu den Kindern und zur Verwandtschaft. Dauerhaft ergeben sich situative Besonderheiten aus der Zugehörigkeit zu einer Migrantenminorität, die die Eltern vor eine doppelte Aufgabe stellt: Einerseits müssen die Kinder auf das Aufwachsen und die Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft vorbereitet werden, andererseits haben die meisten Eltern auch das Ziel, die Beziehung zu ihrer Herkunftsgesellschaft an ihre Kinder weiterzuvermitteln. In dem Maße, wie die Eltern für dieses Ziel wenig institutionelle Unterstützung und Infrastruktureinrichtungen vorfinden, sind sie auf ihre eigenen materiellen und zeitlichen Ressourcen und ihre eigenen Kompetenzen zurückgeworfen. Das führt zu verstärkten Belastungen, die - so zeigt die Forschung immer wieder - allerdings häufig erstaunlich gut gemeistert werden.
Spätestens, wenn es um die Integrations- und Vermittlungsaufgaben als Teil der Erziehung in Migrantenfamilien geht, kommt offensichtlich “Kultur” ins Spiel. Sie ist jedoch weit grundsätzlicher zu thematisieren. Eine gern gebrauchte Redewendung spricht von der “kulturellen Prägung”, als wären Menschen durch Kultur geprägt wie Gänschen, die nach dem Eischlupf das erste sich bewegende Wesen als Mutter annehmen und ihm bedingungslos folgen. Eine solche Vorstellung auf menschliche Verhältnisse anzuwenden, ist verhängnisvoll, weil mit ihr fehlende Lern- und Anpassungsfähigkeit bei Menschen unterstellt wird. Dennoch wird eine solche Vorstellung oft auf Migranten angewandt und ihnen unterstellt, sie würden blind an überkommenen Traditionen festhalten - mit teilweise verhängnisvollen Folgen, wenn darauf z.B. Ratschläge an Eltern oder pädagogisches Handeln gegenüber Kindern beruhen.
“Kultur” ist vielmehr nach sozialwissenschaftlichem Verständnis das akkumulierte Wissen und damit verknüpfte soziale Einrichtungen (Institutionen) und Handlungsempfehlungen, die sich in der Vergangenheit als praktisch und sinnvoll erwiesen haben: “Dauerhafte Lösungen für dauerhafte Probleme” (Berger & Luckmann 2000), die als Handlungsrepertoire für die Auseinandersetzung mit der jeweiligen sozialen und materiellen Umwelt gelernt werden, d.h. was die Akteure als Lösung überhaupt “auf dem Schirm” haben.
Wie die jeweiligen Umweltbedingungen zu unterschiedlichen kulturellen Lösungen geführt haben, dafür hat die Forschung viele empirisch gut belegte Beispiele geliefert. In China gibt es z.B. eine wichtige räumliche Grenze zwischen Reis- und Weizenanbau. Wegen der Wasserverteilung erfordert Reisanbau ein hohes Maß an Kooperation weit über Familien- und Verwandtschaftszugehörigkeit hinaus, wohingegen der Weizenanbau im selbständigen Familienbetrieb hohe Effizienz erreicht. Im ersten Fall kommt im Laufe der Geschichte eine kollektivistische Orientierung zustande, im zweiten Fall eine individualistische. Noch heute unterscheiden sich Chinesen entsprechend ihrer regionalen Herkunft auch danach, ob sie eher kollektivistisch oder eher individualistisch orientiert sind, d.h. für effizientes Handeln eher auf die Harmonie in der Gruppe oder auf individuelle Leistung und Wettbewerb setzen (Talheim et al. 2014).
In Afrika gibt es einen starken Zusammenhang zwischen Regionen mit Anbau von Gemüse bzw. von Feldfrüchten bezüglich der Stellung und Entscheidungsmacht der Frau: Da der Gemüseanbau und -verkauf in den Händen der Frau liegt, führt dies zu einer starken Stellung, wohingegen die Verwendung von Pflügen (und der damit verbundene Kraftaufwand) die Stellung des Mannes stärkt (Boserup 1970). In der weit zurückreichenden historischen Betrachtung ist folgendes erkennbar: Jäger- und Sammlergesellschaften unterscheiden sich von Agrargesellschaften dadurch, dass in Ersteren die persönliche Partnerwahl vorherrscht (“Liebesheirat”), die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau gering ist, wenig Kinder geboren werden, sich Männer stärker an der Betreuung der Kinder beteiligen und Erbschaft keine Rolle spielt. Erbschaft ist dagegen wegen des Grundbesitzes in Agrargesellschaften ebenso bedeutend wie die Anzahl der Nachkommen als Produktionsmittel des Familienbetriebs, entsprechend groß ist das Interesse an Einflußnahme auf die Partnerwahl und die geschlechtsspezifische Arbeits- und Machtverteilung (Harris 1989; als Fallstudie: Schiffauer 1987). Aus dem Zusammenwirken von sich wandelnden Kontextbedingungen und den jeweiligen kulturellen “Antworten” darauf ergeben sich Pfadabhängigkeiten, die sich z.B. an den unterschiedlichen Ausgestaltungen des Sozialstaates in Europa (Esping-Andersen 1990) und in Ostasien (Kim 2016) im Zuge der Industrialisierung zeigen.
Von den jeweiligen Lebensumständen hängt auch ab, welches Bild die jeweilige Kultur den (potenziellen) Eltern von Kindern vermittelt und welche Erwartungen Eltern an ihre Kinder stellen. Im weltweiten Maßstab haben sich zwei sehr unterschiedliche Werte als richtungsweisend und reich an Konsequenzen herausgestellt: der praktische Nutzen von Kindern für die Wohlfahrtsproduktion von Familien, und der emotionale Wert von Kindern für ihre Eltern als enge, dauerhafte Beziehung (Nauck 2007; 2014). Der praktische Nutzen von Kindern besteht in ihrem Arbeitsbeitrag zum Familienhaushalt und ist besonders groß in der Subsistenzwirtschaft (d.h., wenn Familien für ihren eigenen Verbrauch produzieren). Dies gilt auch für vorindustrielle Gesellschaften, in denen Nicht-Familienmitglieder als Arbeitskräfte unbekannt sind und die einzige Chance zum Erhalt oder zur Erweiterung der Produktion durch Nachkommen besteht. Weiterhin bilden die Kinder in allen Gesellschaften ohne sozialstaatliche Einrichtungen oder solche mit nicht hinreichender Versorgungstiefe die wichtigste Absicherung gegen Armut im Alter. Aus beiden Gründen ist es - nicht nur wegen des Risikos der Kindersterblichkeit - “vernünftig”, möglichst viele Kinder zu haben, um die Arbeits- und Versorgungslasten auf viele Schultern zu verteilen.
Der emotionale Wert von Kindern ergibt sich insbesondere aus der lebenslangen dialogischen Verbundenheit, die Eltern-Kind-Beziehungen in modernen Gesellschaften zu den stabilsten und - anders als Partnerbeziehungen - zu den einzigen eigentlich unaufkündbaren Beziehungen macht. Steht dieser Wert im Vordergrund, ist es zumeist “vernünftig”, wenige Kinder zu haben, auf die sich Zuwendung, Investitionen in Zeit und Geld konzentrieren. Anders als der praktische Nutzen kann der emotionale Wert von Kindern durch weitere Nachkommen kaum gesteigert werden.
Abbildung 1 illustriert, in wie starkem Maße sich Länder danach unterscheiden, welche Erwartungen an Nachkommen im Vordergrund stehen. Zugleich wird deutlich, dass diese Unterschiede in starkem Maße mit dem Wohlfahrtsniveau und der sozialstaatlichen Verfassung im Zusammenhang stehen.
Vor diesem Hintergrund ist folgendes nachvollziehbar: Kulturelle Unterschiede in der elterlichen Erziehung beruhen darauf, dass sie in ihrem jeweiligen (historischen) Entstehungskontext zunächst einmal “vernünftige” Antworten auf die besonderen Bedingungen und Herausforderungen sind – eben dauerhafte Lösungen für dauerhafte Probleme für einen spezifischen Kontext. Elterliche Erziehung basiert also häufig auf bewährten Alltagsroutinen, die von Generation zu Generation weitergegeben worden sind. Entsprechend sind solche geteilten und akzeptierten Vorstellungen nicht notwendigerweise reflektiert, sondern gehen als “kulturelle Selbstverständlichkeiten” in das situative und intuitive Handeln der Eltern ein. Um diese Form der Entstehung und Vermittlung von elterlichem Handlungswissen zu verdeutlichen, werden sie auch - keineswegs abwertend - als “naive Erziehungstheorien” bezeichnet. Diese sind ihrerseits ein wichtiger Gegenstand insbesondere der kulturvergleichenden Forschung, um die Kontextabhängigkeit elterlicher Beweggründe und ihr Verhalten zu rekonstruieren und besser zu verstehen (Trommsdorff 2005; 2007; 2008).
In der kulturvergleichenden Forschung gibt es eine lange Tradition, die sich mit Unterschieden in den jeweiligen kulturgebundenen naiven Erziehungstheorien und deren Effekten auf die kindliche Entwicklung befasst (Whiting & Child 1953; Whiting & Whiting 1975; Harkness & Super 1987; Trommsdorff 2007). Eine besondere Rolle haben dabei die Vergleiche von Eltern aus “kollektivistischen” und “individualistischen” Kulturen gespielt, mit denen jeweils markante Unterschiede in individueller Autonomie und sozialer Verbundenheit verknüpft sind (Kim et al. 1994; Kağitcibasi 2005). Geert Hofstede (2001) hat in einer weltweit angelegten Untersuchung nationale Unterschiede in den Wertvorstellungen untersucht. Er definiert “Individualismus” als Bevorzugung von losen Sozialbeziehungen, in denen die Individuen die Erwartung haben, nur für sich selbst und ihre Familien Verantwortung tragen. “Kollektivismus” repräsentiert die Bevorzugung von engmaschigen Sozialbeziehungen, in denen Individuen erwarten können, dass Gruppenmitglieder füreinander in selbstverständlicher Loyalität sorgen. Entsprechend unterscheiden sich beide Kulturen danach, ob sich Identifikation in einem “Ich” oder in einem “Wir” ausdrückt. Eine andere wichtige Dimension in der Untersuchung von Hofstede, nach der sich Kulturen unterscheiden und die für Eltern-Kind-Beziehungen wichtig ist, ist “Machtdistanz”. In Kulturen mit hoher Machtdistanz wird (elterliche) Autorität und Entscheidungsbefugnis als gegeben vorausgesetzt und fraglos akzeptiert, während sich geringe Machtdistanz darin ausdrückt, dass Hierarchien “flach” sind und sich Interaktionspartner (auch: Eltern und Kinder) “auf Augenhöhe” begegnen. In der folgenden Graphik 2 werden beide Dimensionen für die deutsche Mehrheitsgesellschaft und einige ausgewählte Zuwanderungsregionen dargestellt (da Werte für Syrien und Afghanistan als neue Flüchtlings-Zuwanderungsregionen nicht erhoben wurden, werden ersatzweise Werte für die kulturell ähnliche arabische Region wiedergegeben). Die Werte sind auf einer Skala von 0 - 100 abgetragen.
Abb. 2: Kollektivismus und Machtdistanz in Deutschland und ausgewählten Herkunftsländern (Hofstede 2001)
Deutlich wird an diesem Schaubild, dass Deutschland zusammen mit Italien zu den Ländern mit hohem Individualismus und geringer Machtdistanz gehört (Länder wie Großbritannien würden noch höhere Individualismus- und Länder wie Schweden noch geringere Machtdistanz-Werte aufweisen). Dagegen gehören Länder wie Vietnam (und andere ostasiatische Länder), Arabien (und andere Länder des Mittleren Ostens) sowie Russland zu den Ländern mit hoher Machtdistanz und hohem Kollektivismus - und damit in dieser Aufstellung zu den Ländern mit der höchsten kulturellen Distanz zur Aufnahmegesellschaft Deutschland. Interessant ist, dass die Türkei diesbezüglich eine Mittelstellung aufweist, galt sie doch lange Zeit - im Vergleich zu den übrigen “klassischen” Anwerbeländern - als Musterbeispiel für “das Fremde”. Durch die zunehmende Diversifizierung von Zuwanderungsgruppen wird diese Vorstellung erheblich relativiert.
Es ist naheliegend, dass sich diese Unterschiede in den grundlegenden Werte-Dimensionen auch in den naiven Erziehungstheorien niederschlagen, die in den jeweiligen Gesellschaften dominieren (Essau & Trommsdorff 1995; Kornadt & Trommsdorff 1990; Trommsdorff 1997; Ziem et al. 2013). Empirische Befunde zeigen zum Beispiel, dass Mütter im “kollektivistischen” Japan davon ausgehen, dass frühkindliche Entwicklung ein natürlicher Prozess der Reifung ist, den sie selbst zwar durch enge und harmonische Eltern-Kind-Beziehungen begleiten, aber nicht durch elterliche Intervention fördern können und sollen. Demgegenüber gehen Eltern in “individualistischen” Kulturen (wie der deutschen Mehrheitsgesellschaft) davon aus, dass kindliche Entwicklung primär das Ergebnis der Einwirkung von Kontexteinflüssen und damit dem “Erfolg” oder “Misserfolg” elterlicher Förderung und Supervision zuzurechnen ist. Kollektivistische und individualistische Kulturen unterscheiden sich auch darin, welche Bedeutung die Kultivierung von individueller Unverwechselbarkeit und von persönlicher Privatheit bereits bei Kindern hat. So wird in individualistischen Kulturen ein eigenes Kinderzimmer durchweg als Ausdruck elterlicher Förderung und als Privileg gewertet, während es in kollektivistischen Kulturen häufig als Ausgrenzung empfunden wird.
Die skizzierte kulturelle Diversität stellt eine große Herausforderung für die sozialwissenschaftliche Erforschung der Erziehung in Migrantenfamilien in Aufnahmegesellschaften dar. Die kulturelle Diversität steht nämlich in komplizierten Wechselverhältnissen mit den eingangs skizzierten Faktorenbündeln der jeweiligen situativen Bedingungen in der Aufnahmegesellschaft und den verfügbaren familiären Ressourcen. Diese Herausforderung ist erst in jüngerer Zeit als solche erkannt worden. Entsprechend wenige Befunde liegen vor, die die sich aus den Wechselverhältnissen sich ergebende Dynamik erfassen können.
Im Forschungsprojekt “Diversität und Wandel der Erziehung in Migrantenfamilien” wurde am Institut für Interkulturelle und International Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg auf der Basis einer Zusammenführung von allen verfügbaren sozialwissenschaftlichen Erhebungen in Deutschland der Wandel in den Erziehungsstilen untersucht (Nauck 2021). Die Analysen basieren auf Selbstauskünften von 4.066 Vätern und Müttern türkischer Herkunft, 4.469 Eltern russischer Herkunft, 1.366 Eltern italienischer oder griechischer Herkunft, sowie 1.279 Eltern ostasiatischer (insbesondere vietnamesischer) Herkunft aus den Jahren 1984 bis 2020. Für den Vergleich der von den Befragten selbst wahrgenommenen Erziehungsstile wurde auf eine Konzeptualisierung von Baumrind (1978) und Maccoby und Martin (1983) zurückgegriffen, die auf den Dimensionen “demandingness” und “responsiveness” basiert und - je nach überwiegender Ausprägung - vier Erziehungsstile beschreibt (Tabelle 1).
Tab. 1: Konzeptualisierung von Erziehungsstilen nach Baumrind und Maccoby
Responsiveness (emotionale Involviertheit) |
Demandingness (Striktheit/Supervision) |
|
|
hoch |
niedrig |
hoch |
authoritative (autoritativ) |
indulgent (verwöhnend) |
niedrig |
authoritarian (autoritär) |
neglectful (vernachlässigend) |
Der autoritative Parenting-Stil wird in westlichen Gesellschaften hochgeschätzt; er kennzeichnet eine zugleich emotional warme, zugewandte und fordernd-verlässliche Art des Umgangs mit Kindern. Der autoritäre Stil hingegen gilt in westlichen Gesellschaften als wenig angemessen; seine Merkmale sind geringe emotionale Zuwendung bei zugleich hoher Striltheit und Kontrolle des Kindes.
Für eine Beschreibung des Wandels und der großen Dynamik werden in Abbildung 3 alle Selbstauskünfte der Väter und Mütter aus den jeweiligen Herkunftsgruppen aus den Erhebungen vor dem Jahr 2000 denen nach dem Jahr 2000 gegenübergestellt.
Abb.3: Wandel der Parenting-Typen (nach Baumrind und Maccoby) in den Herkunftsgruppen (vor/nach 2000)
In allen vier Herkunftsgruppen zeigen sich ähnliche, mächtige Wandlungstendenzen: Die Anteile eines distanzierten Parenting-Stils, d.h. einer Kombination von geringer emotionaler Involviertheit mit geringer Supervision und Striktheit, nehmen in allen Herkunftsgruppen ab - am stärksten bei den Eltern italienischer und griechischer Herkunft sowie bei den Eltern russischer Herkunft, am wenigsten bei den Eltern ostasiatischer Herkunft. Demgegenüber nimmt ein autoritativer Parenting-Stil, d.h. eine Kombination von Striktheit und emotionaler Wärme, in allen Herkunftsgruppen zu - wiederum am stärksten bei den Eltern italienischer und griechischer Herkunft sowie den Eltern russischer Herkunft, am wenigsten bei den Eltern ostasiatischer Herkunft. Weniger ausgeprägt, aber gegenläufig ist die Wandlungstendenz bezüglich des verwöhnenden Parenting-Stils: Während die Anteile bei den Eltern italienischer, griechischer und russischer Herkunft zunehmen, ist bei den Eltern türkischer und ostasiatischer Herkunft eine moderat abnehmende Tendenz zu verzeichnen. In den jüngeren Dekaden machen die Anteile eines autoritativen Parenting-Stils in drei der vier Herkunftsgruppen mindestens ein Drittel aus und wird zum dominanten Stil. Bei den Eltern ostasiatischer Herkunft ist dies in weitaus geringerem Ausmaß der Fall, obwohl gerade die Jugendlichen aus diesen Familien sich durch einen besonders hohen Bildungserfolg auszeichnen, der noch über dem der einheimischen Jugendlichen liegt (Nauck & Schnoor 2015).
Das Beispiel dieser letzteren Herkunftsgruppe zeigt, dass eine Angleichung an die Mehrheitsgesellschaft - etwa durch die Bevorzugung eines autoritativen elterlichen Erziehungsstils - keineswegs mit größerer schulischer und beruflicher Integration einhergehen muss. Die Ergebnisse in Tabelle 3 zeigen aber auch, dass zu beiden Zeitpunkten erhebliche Unterschiede zwischen den Herkunftsgruppen bestehen, was auf die anhaltende Bedeutung der jeweiligen Herkunftskultur verweist.
Fazit
Aus mehreren Gründen ist die Erziehung in Migrantenfamilien von herausgehobener Bedeutung für Praxis und Wissenschaft - und nicht zuletzt für die Familien selber. Mit der Zuwanderung von Familien insbesondere aus Regionen mit großer kultureller Distanz zur Aufnahmegesellschaft erhöht sich die Diversität der vorhandenen und nebeneinander gelebten naiven Erziehungstheorien, wodurch die Orientierung der Eltern wie der mit ihnen befassten professionellen Akteure zusätzliche Komplexität erfährt und zu einer größer werdenden Herausforderung wird.
Eltern mit Migrationshintergrund haben Interesse daran, dass Elemente der Herkunftskultur an ihre Kinder weitergegeben werden - nicht zuletzt, um den Zusammenhalt zwischen den Generationen und zu Mitgliedern der Verwandtschaft zu sichern und zu fördern. Sie werden jedoch bei dieser intergenerativen Transmission von Kultur nicht in gleicher Weise durch institutionelle Angebote und Programme unterstützt und entlastet, wie dies bei Familien der Mehrheitskultur der Fall ist. Vielmehr ist diese Aufgabe vornehmlich in der familiären Erziehung selbst zu leisten. Mit dem Interesse an kultureller Transmission ist deshalb häufig auch ein überdurchschnittliches Maß an Eltern-Kind-Bindungen und an elterlicher Supervision verbunden. Insbesondere, wenn die elterlichen Kompetenzen und Ressourcen zur Bewältigung dieser Aufgabe begrenzt sind, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit von elterlicher Überforderung und Stress sowie einer Belastung der Eltern-Kind-Beziehung.
Erziehung in Migrantenfamilien ist nicht statisch, sie unterliegt vielmehr einer noch größeren Dynamik als in Familien der Mehrheitsgesellschaft. Diese Dynamik ist sowohl auf der Ebene der Veränderungen in der Familie als auch im gesamtgesellschaftlichen Wandel zu lokalisieren. Der Wandel der Gesellschaft nimmt seinerseits erheblichen Einfluss auf das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Veränderungen in den Migrantenfamilien und auf elterliches Verhalten.
Auf der Familienebene sind insbesondere Veränderungen im Aufenthaltsstatus und in der Integration der Eltern in das Beschäftigungssystem sowie die Geburt weiterer Kinder zu nennen. Mit den Veränderungen im Aufenthaltsstatus ist eine Veränderung der Bleibeperspektive verbunden, die ihrerseits Veränderungen im Investitionsverhalten nach sich zieht. Dies sind z.B. Entscheidungen darüber, ob sich die Investitionen für die Kinder auf eine Rückkehr in die Herkunftsgesellschaft, auf einen Verbleib in der Aufnahmegesellschaft oder auf eine Weiterwanderung beziehen sollen.
Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene sind insbesondere Veränderungen in den interethnischen Beziehungen, die Gelegenheitsstrukturen für die Integration von Migranten in das Beschäftigungssystem und in die Aufnahmegesellschaft zu nennen. Kulturelle Distanz von Herkunftsgruppen, ihre Stellung in der Abfolge von Wanderungswellen und ihre numerische Größe sind dabei Faktoren, die Geschwindigkeit und Verlauf des Eingliederungsprozesses beeinflussen. Mit der Offenheit der Mitglieder und Institutionen der Aufnahmegesellschaft sowie des Arbeitsmarktes bzw. deren Schließung verändern sich die Gelegenheitsstrukturen für Akkulturationsprozesse in Migrantenfamilien. Solche Schließungen können ihrerseits ethnische Schließungsprozesse in den Migrantenminoritäten auslösen. Die Intensität solcher Schließungsprozesse ist umso höher, je größer die Sichtbarkeit von Merkmalen (“Markern”) ist, die auf ethnische Herkunft oder Zugehörigkeit hindeuten.
Die Offenheit der Aufnahmegesellschaft für die jeweilige Herkunftsgruppe wird erheblich durch die Wanderungssukzession beeinflusst. Nachfolgende Gruppen verändern die Einstellungen gegenüber bereits ansässigen Zuwanderungsminoritäten. Beispielsweise begegneten den italienischen Arbeitsmigranten Ende der 1950er Jahre hohe Ressentiments in Deutschland. Durch die nachfolgenden Zuwanderungswellen wandelte sich dies, so dass die italienische Migrantenminorität inzwischen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft als die sympathischste Gruppe eingestuft wird.
Mit der Größe der jeweiligen Migrantenminorität in sozialen Räumen verändern sich auch die Gelegenheitsstrukturen, um wesentliche Teile der Alltagsorganisation von Migrantenfamilien innerhalb eigenethnischer Bezüge von Verwandtschaft und Nachbarschaft zu vollziehen. Dies gilt umso mehr, wenn die Migrantenfamilien darüber hinaus in eine institutionell vervollständigte Migrantenminorität integriert sind: eine Gemeinschaft, die eigenethnisch geprägte Institutionen wie Kindergärten, Schulen, professionelle Beratung und Betreuung, Vereine, Bibliotheken und Massenmedien verfügbar macht. Allerdings hat die räumliche Klumpung in jüngster Zeit an Bedeutung verloren: Durch die beträchtlich erweiterten Mobilitätsoptionen (u.a. regelmäßige, vergleichsweise kostengünstige Verkehrsverbindungen in die Herkunftsgesellschaft) und die Verfügbarkeit von Individual- (bezahlbares Telefon, Skype und Internet) und Massenkommunikation (ethnische Zeitungen, Fernsehkanäle, Film- und Musik-Speichermedien) ist die Beibehaltung von sozialen und kulturellen Bindungen an Migrantenminorität und Herkunftsgesellschaft - auch ohne räumliche Nähe - ohne großen Aufwand möglich.
Entsprechend ist zu erwarten, dass sich die Erziehung in Migrantenfamilien nicht nur nach ihrer kulturellen Herkunft und ihren jeweiligen familiären Ressourcen, sondern auch nach den sich für sie wandelnden Bedingungen in der Aufnahmegesellschaft unterscheiden. Und es ist davon auszugehen, dass die Erziehung in Migrantenfamilien auch weiterhin - und über Generationen hinweg - eine hohe Dynamik aufweisen wird.