DIWAN: Empfehlungen für die Beratung von Migrantenfamilien - Spracherziehung im Kontext der Mehrsprachigkeit
Ingrid Gogolin, Bernhard Nauck und Marc Schmid
Die folgenden Handlungsempfehlungen sind aus den Analysen der Untersuchung „Diversität und Wandel der Erziehung in Migrantenfamilien (DIWAN)“ hervorgegangen, die von 2018 bis 2021 in einem Verbundprojekt zwischen dem Deutschen Jugendinstitut (Prof. Dr. Sabine Walper, Leitung des Verbunds, und Mitarbeiterinnen) sowie der Universität Hamburg (Prof. Dr. Ingrid Gogolin, Prof. Dr. Bernhard Nauck und Dr. Marc Schmid) durchgeführt wurde. Die Untersuchung wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert (Förderkennzeichen UHH: 01UM1814BY). Das Projekt beruhte auf der Beobachtung, dass sich in den vergangenen 50 Jahren in Deutschland markante Veränderungen im „öffentlichen“ Leitbild für Erziehung vollzogen haben. Zunehmend ist das Ideal einer kindzentrierten, gewaltfreien und die Teilhabe von Kindern fördernden Perspektive in den Vordergrund getreten. Zugleich aber hat sozialer und kultureller Wandel, u.a. infolge von Migration, zu einer wachsenden Heterogenität kulturell vermittelter Leitbilder und Praktiken der Erziehung beigetragen.
Im Forschungsprojekt DIWAN ging es vor diesem Hintergrund um kulturellen Wandel und migrationsbedingte Diversität in Erziehung im Allgemeinen und der Spracherziehung im Besonderen seit den 1980er Jahren in Deutschland. Erstens wurde anhand von Zeitwandel-Daten untersucht, inwiefern sich parallele, konvergierende oder divergierende Trends in Erziehungsverhalten und -zielen von Eltern mit und ohne Migrationserfahrung ausmachen lassen. Zweitens wurde der Wandel pädagogischer Leitbilder der Erziehung und Spracherziehung in Familien anhand von Materialien der Familienbildung und Experteninterviews nachgezeichnet. Drittens wurde die Diversität von Erziehungsverhalten und -zielen von Eltern unterschiedlicher Zuwanderungsgruppen anhand neu verfügbarer Daten analysiert, um relevante Einflussfaktoren auf die familiale Erziehung herauszuarbeiten.
Aufbauend auf den empirischen Erkenntnissen und in Zusammenarbeit mit Praxispartnern wurden die beiden folgenden Impulse für eine migrationssensible Zusammenarbeit mit Eltern in Erziehungsfragen erarbeitet.
(1) Die Arbeit mit Migrantenfamilien erfordert (auch weiterhin) einen Zugang, der durch die Kenntnis der jeweiligen Herkunftskultur informiert ist und die situativen Besonderheiten des Aufenthaltsstatus der Familien berücksichtigt.
Die vergleichende Analyse des Wandels der Erziehung in Migrantenfamilien, die auf sozialwissenschaftlichen Daten der vergangenen vier Jahrzehnte für türkische, russische, griechische und italienische sowie ostasiatische Herkunftsgruppen basiert, hat als Befund ergeben, dass sich Migrantenfamilien während dieser Zeit zwar verändern, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Herkunftsgruppen jedoch bestehen bleiben. Bei drei untersuchten Dimensionen selbstperzipierter Erziehungsstile (emotionale Involviertheit; Monitoring und Kontrolle; Spannungen) sind die Unterschiede zwischen den Herkunftsgruppen untereinander und im Vergleich zu den Mitgliedern der Bevölkerungsmehrheit stark, wohingegen Unterschiede zwischen der Wanderungs- und der Folgegeneration von Müttern und Vätern dahinter zurücktreten (weitere Informationen dazu finden Sie hier).
Die Unterschiede zwischen den Herkunftsgruppen zeigen, dass sich der jeweilige Aufenthaltsstatus erheblich auf das Klima der Eltern-Kind-Beziehungen auswirkt. So ist der gesicherte Aufenthaltsstatus der klassischen Arbeitsmigranten und der Zuwanderer aus Russland mit einer Konsolidierung von engen emotionalen Beziehungen auf hohem Niveau geprägt, verbunden mit einer Zunahme an Monitoring und Kontrolle, was einem „autoritativen“ Erziehungsstil entspricht. Dagegen zeigt sich bei Migrantenfamilien ostasiatischer Herkunft und bei Flüchtlingen aus dem Mittleren Osten ein hohes Maß an Spannungen in den Eltern-Kind-Beziehungen. Dies lässt den Schluss zu, dass ein weniger gesicherter Aufenthaltsstatus und weniger verfügbares Handlungswissen aufgrund geringerer Aufenthaltsdauer der Herkunftsgruppe Stressoren sind, die sich auf die Beziehung zu den Kindern belastend auswirkt.
(2) Die diffizilen sprachlichen Konstellationen in Migrantenfamilien erfordern Hilfestellungen, die durch wissenschaftliche Erkenntnisse über die Komplexität von Spracherwerbs- und Sprachentwicklungsbedingungen im Migrationskontext informiert sind und die situativen sprachlichen Konstellationen der Familien berücksichtigen. Der Rückgriff auf vereinfachte Bilder von Sprachentwicklung und Sprachpraxis ist wenig erfolgversprechend angesichts des differenzierten Beratungsbedarfs mehrsprachiger Familien.
Die Analyse des Beratungsmaterials zur sprachlichen Erziehung hat gezeigt, dass es in der beobachteten Zeit deutliche Veränderungen der Grundvorstellungen gibt, die mit Spracherwerb- und Entwicklung verbunden sind. Dies betrifft insbesondere die Hinweise auf Rolle und Funktion der Herkunftssprachen. In Material aus den 1980er Jahren ruhten diese noch stark auf der Annahme auf, dass die Herkunftssprachen vor allem wegen der möglichen Rückkehr der Familien in das Land der Herkunft oder der Wahrung einer abgegrenzten kulturellen Identität als Minderheit gepflegt werden sollten. Davon ist in den jüngeren Ratgebern nicht mehr die Rede. Vielmehr wird in der Zwischenzeit zunehmend auf Mehrsprachigkeit als Merkmal der Einwanderungsgesellschaft rekurriert und den Herkunftssprachen ein eigener Stellenwert unabhängig vom Lebensort der Familie zugemessen.
In der Analyse des Wandels zeigen sich aber zugleich verfestigte Vorstellungen, die mit Einseitigkeiten von Sprachbildern verbunden sind. So ist zum Beispiel vielfach von „der Sprache der Familie“ die Rede; „Mehrsprachigkeit“ scheint häufig verstanden zu werden als „mehrfache Einsprachigkeit“, wobei den Sprachen der Herkunft der familiäre Innenraum zugerechnet wird, der deutschen Sprache die öffentliche Kommunikation. Tatsächlich zeigen entsprechende Untersuchungen, dass in diesem Sinne (doppelt) einsprachige Konstellationen in der Realität der Familien so gut wie nicht vorkommen. Dies liegt auf der Hand bei binationalen Familien, in denen durch die Eltern mehrere Sprachen mitgebracht werden. Aber Mehrsprachigkeit ist auch häufig ein Kennzeichen der „Herkunftssprachlichkeit“ an und für sich. So verfügen beispielweise Personen aus Syrien, Iran, Irak, Libanon oder der Türkei oft über eine Variante der aramäischen Sprache, zugleich aber benutzen sie die jeweils in ihrer Herkunftsregion verwendete Verständigungssprache. Und auch in Familien mit nur einer Herkunftssprache ist eine komplexe mehrsprachige Praxis die Regel, da der Sprachgebrauch zwischen den Familienmitgliedern unterschiedlich ist: Oft sprechen die Geschwister untereinander anders als mit den Eltern; oft sprechen Eltern mit älteren Kindern anders als mit jüngeren. Andere Beispiele für Vereinfachung sind in Vorstellungen darüber enthalten, welche Funktionen und Zwecke mit dem Einsatz von Sprache jeweils verbunden sind. So wird vielfach das Bild hergestellt, dass die Herkunftssprache als „Sprache der Intimität, der Gefühle“ fungiere, während mit der deutschen Sprache das Bild der „Grundlage für Bildungserfolg“ verknüpft wird.
Reduktionen dieser Art bergen die Gefahr, konfligierende Szenarien oder gar Handlungsvorstellungen zu provozieren – etwa die, dass das Sprechen über Gefühle an die Herkunftssprache gebunden ist; wie sollte ein Elternteil sich dies zu Herzen nehmen, der vielleicht gerade nicht über das entsprechende Repertoire in der Herkunftssprache verfügt? Welche Vorstellungen von einer guten Unterstützung der Bildung ihrer Kinder sollen Eltern entwickeln, die sich auf den Gedanken einstellen, dass mit ihren Herkunftssprachen kein Bildungswert verbunden sei?
Insgesamt gesehen, machen unsere Analysen auch (ein weiteres Mal) auf ein Grundproblem der Beziehung zwischen Wissenschaft, pädagogischer Praxis und „Laien“ als Adressaten der pädagogischen Praxis aufmerksam. In Ratgebermaterialien müssen Reduktionen der „Fachlichkeit“ und Komplexität wissenschaftlicher Darstellungsarten vorgenommen werden, um die Adressatinnen und Adressaten zu erreichen. Zugleich ist damit ein Verzicht auf Ausdrucksweisen verbunden, die der Verständigung in der Wissenschaft dienen. Ratsam ist, in die Entwicklung von Darstellungsformen zu investieren, die dennoch die Komplexität der Sache angemessen aufgreifen.
Eine Möglichkeit wäre es, auf der Grundlage des wissenschaftlichen Wissens über Mehrsprachigkeit Szenarien familialer Sprachenkonstellationen zu entwickeln und Informationsangebote auf dieser Grundlage zu illustrieren und zu differenzieren. Zu empfehlen ist eine Modularisierung der Beratung – und der dafür zur Verfügung gestellten Materialgrundlagen –, die der Heterogenität der Praxis in mehrsprachigen Familien gerecht wird. Dies gilt insbesondere angesichts des Ergebnisses der gewachsenen Diversität der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland.
Allerdings sehen wir hier weiteren Forschungsbedarf mit Blick auf die Angemessenheit und Wirksamkeit von Angeboten, in denen dieser Vorschlag der Modularisierung umgesetzt wird. Hier sollte durch Begleitforschung die Frage verfolgt werden, ob die modular repräsentierte Differenzierung des Angebots, mit der auf die zunehmende Heterogenität der sprachlichen Konstellationen in (nicht nur Migranten-)Familien eingegangen wird, erstens dem Beratungsbedarf von Familien entspricht und zweitens den Qualifikationen des pädagogischen Personals, das die Beratungs- und Bildungsangebote begleitet. Substanzielle empirische Untersuchungen zu dieser Frage liegen bislang nicht vor. Untersuchungsergebnisse zu den Voraussetzungen von Erzieherinnen und Erziehern für die praktische sprachbildende Arbeit im vorschulischen Bereich lassen vermuten, dass auch im Feld der Elternbildungs- und -beratungspraxis ein erheblicher Qualifikationsbedarf besteht. Hierbei geht es nicht um diejenigen Personen, die als Produzentinnen und Produzenten von Material und anderen Angeboten aktiv sind, sondern um das Personal, das seine Praxis (unter anderem) auf diese Grundlagen stützt und für die Dissemination des Materials in der Elternschaft (mit) sorgt.
Insgesamt ist ratsam, die Materialproduktion im untersuchten Feld künftig in engerer Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und pädagogischer Praxis zu gestalten und zugleich durch Forschung zu begleiten, die über Effekte des – ja durchaus mit erheblichem Aufwand entwickelten – Materials Auskunft gibt. Ratgebermaterial für Eltern, in dem diese Empfehlungen aufgegriffen werden, kann in ko-konstruktiven Prozessen entstehen, in die von vornherein Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis eingebunden sind.