Sprachbewusstheit
von Dr. Lena Bien-Miller und Prof. Dr. Anja Wildemann
Verständnis/Definition(en) von Sprachbewusstheit
Mit dem Begriff „Sprachbewusstheit“ wird im Allgemeinen die Fähigkeit bezeichnet, Sprache und Sprachgebrauch zum Gegenstand des Denkens zu machen. Als eine mentale Disposition wird Sprachbewusstheit erst beobachtbar, wenn die gedankliche Auseinandersetzung mit Sprache verbalisiert wird, mit anderen Worten: Wenn über Sprache gesprochen wird. Diese sehr weit gefasste Definition wirft zugleich einige Fragen auf: Zum einen bleibt unklar, ob alle Äußerungen, die Sprache zum Gegenstand haben, als Sprachbewusstheit klassifiziert werden können. Ist bspw. ein Hinweis darauf, dass man den Klang einer Sprache lustig findet, genauso ein Ausdruck von Sprachbewusstheit wie die Anmerkung im Gespräch zwischen Kindergartenkindern, dass „blöde Kuh“ in Referenz auf eine Erzieherin unhöflich sei? Zum anderen stellt sich die Frage, ob das bewusste und zielgerichtete Anpassen des eigenen Sprachgebrauchs an Kommunikationssituationen, das jedoch nicht verbalisiert und somit nur durch sein Ergebnis sichtbar wird, ebenfalls als ein Ausdruck von Sprachbewusstheit zu werten ist (etwa eine Abwägung verschiedener Formulierungen, die durch Verzögerungen, Abbrüche oder Korrekturen im Gesprächsverlauf sichtbar wird, wie bspw. in dieser an eine Lehrkraft gerichteten Frage: Frau Klaus, kannst du/ können Sie mir das erklären?). Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich der Fachdiskurs rund um das Thema Sprachbewusstheit bereits seit mehreren Jahrzehnten. Die Versuche, Äußerungen dieser Art definitorisch unterschiedlichen Kategorien zuzuordnen, haben zu einer Vielzahl von Begriffen und theoretischen Konstrukten geführt, mit denen auf unterschiedliche Weise versucht wird, verschiedene Ausprägungen von Sprachbewusstheit zu kategorisieren. Im Wesentlichen haben sich in diesem Rahmen drei unterschiedliche Verständnisse von Sprachbewusstheit herausgebildet: ein enger, ein weiter und ein ganzheitlicher Begriff (vgl. Akbulut et al., 2017; Wildemann et al., 2020).
Sprachbewusstheit im engen Verständnis
Im engen Verständnis wird als Sprachbewusstheit die Fähigkeit aufgefasst, explizit metasprachlich zu agieren, das heißt: über Sprache und ihren Gebrauch ausdrücklich nachzudenken und zu sprechen. Als ein Indikator für Sprachbewusstheit wird hier Wissen über Sprache angesehen, das allerdings nicht notwendigerweise und nicht ausschließlich im Unterricht angeeignet wird. Dieses metasprachliche Wissen kann vielmehr als Produkt der gesamtsprachlichen Sozialisation und des Sprachunterrichts angesehen werden (vgl. bspw. Karmiloff-Smith, 1992). Bezeichnet werden diese Kenntnisse mit den Begriffen „Analysewissen“ (Bredel, 2013), „Vorstellungen“, „subjektive Theorien über Sprache“ (Oomen-Welke, 2017), „sprachbezogene Konzepte“ (Bien-Miller & Wildemann, i. V.). Sprachbewusstheit in diesem Verständnis kann erst dann systematisch beobachtet werden, wenn Kinder in der Lage sind, sich nach einer Aufforderung metasprachlich zu äußern.
Sprachbewusstheit im weiten Verständnis
Der weite Sprachbewusstheitsbegriff umfasst darüber hinaus die Fähigkeit, bewusst und intentional den Sprachgebrauch an die kommunikative Situation und/ oder den/ die Kommunikationspartner*innen anzupassen, auch wenn Personen nicht in der Lage sind, diese sprachlichen Handlungen zu erklären. Indizien dafür sind z. B. Abwägungen von Formulierungen, Selbst- und Fremdkorrekturen oder auch Überarbeitung von Texten. Sprachbewusstheit in einem weiten Verständnis beruht somit sowohl auf expliziten als auch impliziten metasprachlichen Wissensbeständen und kann bereits im frühen Kindesalter (ab ca. 2-3 Jahren) in spontanen sprachbezogenen Äußerungen und Selbst- und Fremdkorrekturen nachgewiesen werden (vgl. Gombert, 1992).
Sprachbewusstheit im ganzheitlichen Verständnis
Sprachbewusstheit im ganzheitlichen Verständnis geht vor allem auf die Language-Awareness-Konzeptionen (vgl. Luchtenberg, 2017) zurück. Sie beinhaltet neben den sprachbezogenen auch motivationale (Motivation, sich mit Sprache(n) auseinanderzusetzen), emotionale (Einstellungen zu Sprache(n) und soziale (Sprachnutzung) Aspekte. Es geht hier nicht mehr ausschließlich um metasprachliches Wissen und Nachdenken über Sprache, sondern auch um Interesse, Neugierde und Sensibilität für Sprachen und Sprachenlernen in sozialen und kulturellen Handlungsfeldern.
Sprachbewusstheit in der Forschung
Sprachbewusstheit steht seit den 1970er Jahren vermehrt im Fokus der nationalen und internationalen Forschung. Im Rahmen der psychologischen und linguistischen Grundlagenforschung geht es vor allem darum zu untersuchen, ab welchem Alter Kinder in der Lage sind, ihre Aufmerksamkeit auf Sprache zu richten und welche formalen Aspekte von Sprache (Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik) ab welchem Alter dem Bewusstsein zugänglich sind (vgl. Gombert, 1992). Je nachdem, welchem Verständnis von Sprachbewusstheit gefolgt wird, unterscheiden sich die Vorstellungen darüber, zu welchem Zeitpunkt der kindlichen Entwicklung Sprachbewusstheit ihren Ursprung nimmt: die Spanne reicht von frühem Kindesalter (Karmiloff-Smith, 1992) bis hin zum Grundschulalter (Andresen 1985). Zwischen der sprachlichen und kognitiven Entwicklung des Individuums werden vielfach Zusammenhänge vermutet und empirisch untersucht (z.B. Waller, 1988; Neuland et al., 2014). Darüber hinaus standen und stehen aktuell noch verschiedene Äußerungsformen von Sprachbewusstheit im Fokus der Forschung: etwa Sprachbewusstheit in kindlichen Rollenspielen (vgl. Andresen, 2002), in Interaktionen in der Kindertagesstätte (vgl. Stude, 2013), im Rahmen des Schriftspracherwerbs (vgl. Andresen 1985) oder bei der kontrollierten Anwendung grammatischer Regeln (vgl. Eichler, 2007). Ferner werden Zusammenhänge zwischen Sprachbewusstheit und den sprachlichen Teilkompetenzen Lesen, Schreiben, Hören und Sprechen untersucht. Es konnte festgestellt werden, dass Bewusstheit über die Morphologie (Bau von Wörtern) und Syntax (den Bau von Sätzen) mit höheren Rechtschreibleistungen (vgl. Apel et al., 2012) sowie höherem Leseverständnis (vgl. Brimo et al., 2017) zusammenhängt.
Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit
Mehrsprachigkeit wird eine Rolle für die Entwicklung von Sprachbewusstheit zugeschrieben. Studien im englischsprachigen Raum haben positive, von Mehrsprachigkeit ausgehende Effekte auf Sprachbewusstheit festgestellt (z. B. Bialystok, 1991). Auch im deutschsprachigen Raum konnte gezeigt werden, dass mehrsprachige Schüler*innen über eine höhere Sprachbewusstheit verfügen als ihre einsprachig deutschen Altersgenossen. So stellt bspw. Oomen-Welke (2004) fest, dass mehrsprachige Schüler*innen in metasprachlichen Interviews häufiger metasprachlich agieren als einsprachig deutsche Schülerinnen und Schüler. Die Landauer Forschungsprojekte kommt in ihren Studien – „Sprachkompetenzen und Sprachbewusstheit“ (2013-2016) und „MehrSprachen“ (2016-2019) [SM1] – zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie zeigen zudem, dass diese sich aus Mehrsprachigkeit ergebenden Vorteile umso deutlicher zum Tragen kommen, je höher die gesamtsprachliche Kompetenz von Schülerinnen und Schüler ist (Akbulut et al., 2017; Bien-Miller et al., 2017). Im Projekt „MehrSprachen“ wurde darüber hinaus festgestellt, dass Mehrsprachigkeit eine Ressource für die Förderung von Sprachbewusstheit im Deutschunterricht der Grundschule darstellt: Nutzt man Mehrsprachigkeit im Unterricht zum Sprachvergleich, profitieren sowohl mehrsprachige als auch einsprachig deutsche Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihre Sprachbewusstheit.
Weiterlesen
Bialystok, E. (1986). Factors in the growth of linguistic awareness. Child Development, 57(2), S. 498-510.
Bialystok, E. & Ryan, E. B. (1985): Toward a Definition of Metalinguistic Skill. Merill-Palmer Quarterly 31 (3), S. 229-251.
Krafft, A. (2014). Zur Entwicklung metasprachlicher Fähigkeiten bei Kindern mit ein- und mehrsprachigem Hintergrund. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
Kutsch, S. (1988). Kinder über Sprache. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Wildemann, A., Akbulut, M. Bien-Miller, L. (2018). Mehrsprachige Sprachbewusstheit und deren Potenzial für den Grundschulunterricht. In: Mehlhorn, G. & Brehmer B. (Hrsg.): Potenziale von Herkunftssprachen: Sprachliche und außersprachliche Einflussfaktoren. (S.117-140) Stauffenburg: Tübingen.
Wildemann, A., Andronie, M., Bien-Miller, L. & Krzyzek, S. (2020). Sprachliche Übergänge im Deutschunterricht (schaffen) – eine Interventionsstudie mit Grundschullehrerinnen und -lehrern. In: In M. Budde, Monika & F. Prüsmann (Hrsg.): Vom Sprachkurs Deutsch als Zweitsprache zum Regelunterricht: Übergänge bewältigen – ermöglichen – gestalten. (S. 159-183). Waxmann: Münster.
Zitierte Literatur
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Andresen, H. (1985). Schriftspracherwerb und die Entstehung von Sprachbewußtheit. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Andresen, H. (2002). Zur Bedeutung des Rollenspiels für die Sprachentwicklung im Vorschulalter. In: A. Panagiotopoulou/ H. Brügelmann (Hrsg.): Grundschulpädagogik meets Kindheitsforschung. Zum Wechselverhältnis von schulischem Lernen und außerschulischen Erfahrungen im Grundschulalter. Opladen: Leske & Budrich. S. 135 - 139.
Apel K., Wilson-Fowler E. B., Brimo, D. & Perrin, N.A. (2012). Metalinguistic contributions to reading and spelling in second and third grade students. Reading and Writing: An Interdisciplinary Journal 25, p. 1283–1305.
Bialystok, E. (1991). Metalinguistic dimensions in bilingual language proficiency. In: Language processing in bilingual children. Cambrigde, p. 113-140.
Bien-Miller, L., Akbulut, M., Wildemann, A., & Reich, H. H. (2017). Zusammenhänge zwischen mehrsprachigen Sprachkompetenzen und Sprachbewusstheit bei Grundschulkindern. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfG), DOI 10.007/s11618-017-0740-8.
Bien-Miller, L., Wildemann, A. (i. V.). Entwicklung metasprachlichen Wissens über Nomina im Deutschunterricht der Primarstufe.
Bredel, U. (2013). Sprachbetrachtung und Grammatikunterricht. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
Brimo, D., Apel, K. & Fountain, T. (2017). Examining the contributions of syntactic awareness and syntactic knowledge to reading comprehension. Journal of Research in Reading 40(1): https://doi.org/10.1111/1467-9817.12050
Eichler, W. (2007). Prozedurale Sprachbewusstheit, ein neuer Begriff für die Lehr-Lernforschung und didaktische Strukturierung in der Muttersprachendidaktik. In Hug, M. & Siebert-Ott, G. (Hsgr.), Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit (S. 32-48). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Gombert, J. E. (1992). Metalinguistic Development. Chicago: University of Chicago Press.
Karmiloff-Smith, A. (1992): Beyond Modularity. A Developmental Perspective on Cognitive Science. Cambridge, Massachusetts-London, England: The MIT Press.
Luchtenberg, S. (2017). Language Awareness. In Ahrenholz, B. Oomen-Welke, I. & Ulrich, W. (Hsgr.), Deutsch als Zweitsprache (S. 150-162). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Neuland, E., Balsliemke, P., & Steffin, H. (2014). Sprachreflexion von Jugendlichen innerhalb und außerhalb von Schule. In Gornik, H. (Hrsg.), Sprachreflexion und Grammatikunterricht (= DTP, 6) (S. 194-209). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Oomen-Welke, I. (2017). Präkonzepte: Sprachvorstellungen ein- und mehrsprachiger Schüler*innen. In: Ahrenholz, B., Oomen-Welke, I. & Ulrich, W. (Hrsg.), Deutsch als Zweitsprache (= DTP, 9): (4. Aufl.) (S. 493-506), Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Oomen-Welke, I. (2004). The world of languages: what children and adolescents in Europe think. In: M. Candelier, M., Oomen-Welke, I. &. Perregaux, Ch. (Hrsg.): Janua Linguarum – The gateway to languages. The introduction of language awareness into the curriculum: Awakening to languages. (S. 175-186). Graz.
Stude, J. (2013). Kinder sprechen über Sprache. Eine Untersuchung zu interaktiven Ressourcen des frühen Erwerbs metasprachlicher Kompetenzen. Stuttgart: Fillibach bei Klett.
Waller, M. (1988). Komponenten der metasprachlichen Entwicklung und Bedingungen ihres ontogenetischen Aufbaus. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 20 (4), S. 297–321.
Wildemann, A., Bien-Miller, L. & Akbulut, M. (2020). Mehrsprachigkeit und Sprachbewusstheit – empirische Befunde und Unterrichtskonzepte. In: Gogolin, I., Hansen, A., McMonagle, S. & Rauch. D. (Hrsg.): Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung (S. 119-123). Wiesbaden: Springer VS.