Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit
Entwicklung einer ressourcenorientierten Didaktik für den Herkunfts- und Fremdsprachenunterricht am Beispiel russischer und polnischer HerkunftssprecherInnen
Projektvorstellung
Im Leipziger Teilprojekt wurden didaktische Ansätze für den Herkunftssprachenunterricht entwickelt, die gezielt an die ermittelten Sprachkompetenzen und Lernbedarfe der im Vorgängerprojekt untersuchten russisch- und polnischsprachigen Jugendlichen anknüpfen.
Im Greifswalder Teilprojekt wurden die Untersuchungen zum Sprachstand der Jugendlichen fortgeführt, um Aussagen zur langfristigen Entwicklung ihrer Kompetenzen in der Herkunftssprache treffen zu können. Ein zweiter Schwerpunkt lag auf der Frage, ob Herkunftssprecher im Vergleich zu monolingual aufgewachsenen Gleichaltrigen über eine höhere Sprachbewusstheit verfügen, die ihnen bei der Erkennung von Strukturen neu zu erlernender Sprachen, d.h. beim Aufbau neuen sprachlichen Wissens, zugute kommt.
Methodisches Vorgehen
Im Fremd- und Herkunftssprachenunterricht wurden in enger Zusammenarbeit mit Russisch- und Polnischlehrkräften binnendifferenzierende Unterrichtseinheiten vorbereitet, begleitet und reflektiert. Dabei wurden vorhandene Differenzierungsangebote in Lehrwerken empirisch erprobt und verschiedene Differenzierungsformate, z. B. die Arbeit mit Lesetagebüchern, Überarbeitungsszenarien für schriftliche Lernertexte, differenzierte Arbeitsblätter, die Methode Lernen durch Lehren und kooperative Lernformen eingesetzt. Parallel dazu wurde die Untersuchung des Sprachstands der Probandinnen und Probanden in der Herkunftssprache im Hinblick auf verschiedene Kompetenzen (Lese- und Hörverstehen, Schreiben, Sprechen, Wortschatz, Aussprache, Grammatik) fortgeführt.
Ergebnisse
Ein wichtiges Prinzip für den Unterricht in heterogenen Gruppen stellt Binnendifferenzierung dar, d.h. dass Methoden, Materialien und Lernaktivitäten auf flexible Weise modifiziert werden, um die Lernenden auf ihrem jeweiligen Sprachniveau optimal fördern zu können. Innere Differenzierung zwischen Fremdsprachen- und Herkunftssprachenlernenden ist dann gut umsetzbar, wenn es verbindende Elemente – z. B. eine gemeinsame Problemfrage – gibt, mit der sich die ganze Lerngruppe beschäftigt, wobei der Schwierigkeitsgrad, der Umfang und Hilfen für einzelne Lernende variiert oder Wahlmöglichkeiten eingeräumt werden. So können nach differenzierenden Maßnahmen die unterschiedlichen Ergebnisse auf der inhaltlichen Ebene wieder zusammengeführt und formatives Feedback gegeben werden.
Die Sprachstandserhebungen belegten eine stetige Verbesserung der Fertigkeiten in der Herkunftssprache oder mindestens eine Stagnation auf hohem Niveau. Zudem verfügten die untersuchten Probandinnen und Probanden generell über ein hohes, zumeist aber nur implizites Wissen bezüglich der getesteten Strukturen in der Herkunftssprache. Die Untersuchung zeigte, dass dann, wenn in den Familien ein hohes Bewusstsein über den Nutzen der Herkunftssprache besteht und Möglichkeiten ihrer institutionellen Förderung in Anspruch genommen werden können, ein kontinuierlicher Ausbau der herkunftssprachlichen Fähigkeiten erfolgen kann.
Implikationen für die Praxis
Das Projekt konnte Faktoren ermitteln, die für den langfristigen Erhalt herkunftssprachlicher Kompetenzen eine besondere Rolle spielen: Unterricht in der Herkunftssprache kann zum Spracherhalt beitragen, wenn er kontinuierlich über viele Jahre mit einer möglichst hohen Anzahl von Wochenstunden erteilt und durch die intensive Verwendung als Familiensprache von Geburt an gestützt wird. Die familiären Einstellungen zur Herkunftssprache sind von entscheidender Bedeutung für die von den Jugendlichen selbst entwickelten Identitätskonzepte und Spracheinstellungen. Trotz ihrer sehr guten Kompetenzen in der Herkunftssprache nutzen die Jugendlichen sie jedoch selten als kognitive oder sprachliche Ressource zum Aufbau neuen Wissens. Es bedarf folglich gezielter methodisch-didaktischer Maßnahmen, mit denen das Bewusstsein um die Herkunftssprache als sprachliche Ressource (z.B. für den Erwerb weiterer Fremdsprachen) gezielt gefördert werden kann, um so einen systematischeren Zugriff auf sprachliches Vorwissen durch die mehrsprachigen Jugendlichen zu ermöglichen.